Vom Heben der Schätze – Fachliche Feststellung im Rahmen der Nachqualifizierung an- und ungelernter Migrantinnen und Migranten in Berlin

Blogbeitrag von Christiane Arndt und Susanne Neumann.

Das Berliner Projekt EMSA (bis März 2016 unter dem Namen QSInova bekannt) berät seit 2011 erwachsene Migrantinnen und Migranten zu Wegen, einen Berufsabschluss nachzuholen. Zudem koordiniert EMSA ein Netzwerk von Bildungsträgern, die abschlussorientierte modulare Nachqualifizierungen für Teilnehmende mit Deutschkenntnissen ab B1 Niveau (GER) umsetzen. Grundlegend sind dabei die EMSA-Elemente integriertes Fach- und Sprachlernen und Kompetenzentwicklungsbegleitung. EMSA wird gefördert von der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen.

Die Zielsetzung des Projektes EMSA ist eine Erhöhung der Teilnahme von Migrantinnen und Migranten an Angeboten, die zum Berufsabschluss führen. Dies erfordert den Einsatz unterschiedlicher Verfahren zur Feststellung von Kompetenzen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Dabei wird auf zwei bewährte Konzepte zurückgegriffen, die in verschiedenen Bundes- und Landesprogrammen entwickelt wurden:

  • eine Kompetenzfeststellung nach dem KomPass Plus-Verfahren als Teil des Beratungsprozesses vor der Teilnahme an einer abschlussorientierten Qualifizierung, welches der Reflektion und/oder Festigung von beruflichen Zielen dient
  • fachliche Feststellungsverfahren innerhalb der im Netzwerk umgesetzten Nachqualifizierungen zur individuellen Qualifizierungsplanung

Hintergrund der Entwicklung des fachlichen Feststellungsverfahren

Im Rahmen des Bundesprogramms Perspektive Berufsabschluss des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (2009-2012) wurde im Berliner Projekt Serviceagentur Nachqualifizierung Berlin (SANQ) ein Konzept und die Standards für die fachliche Feststellung im Rahmen der Nachqualifizierung erarbeitet. Im EMSA-Netzwerk werden die Standards der Nachqualifizierung und der fachlichen Feststellung nach SANQ umgesetzt.

Bei einer Nachqualifizierung entsprechend dieses Konzeptes handelt es sich um eine Modularisierung des Ausbildungslehrplans und des Rahmenlehrplans des entsprechenden Berufsbildes. Die Module entsprechen abgeschlossenen Einheiten. Ein bundesweiter Ansatz der Modularisierung findet sich im Programm Jobstarter Connect und den dort entwickelten und erprobten Ausbildungsbausteinen.

Die Module oder Bausteine dienen in der Nachqualifizierung als Referenzsystem für die fachliche Feststellung, welche die Grundlage für die Qualifizierungsplanung zum Berufsabschluss über die Externenprüfung bildet.

Zielgruppe und Zielsetzung der fachlichen Feststellung

Zielgruppe der fachlichen Feststellung sind An- und Ungelernte bzw. Menschen mit beruflichen Erfahrungen im Zielberuf. Berufliche Erfahrungen umfassen dabei:

  • (in)formell erworbenen beruflichen Erfahrungen und Kompetenzen, beispielsweise durch abgebrochene Ausbildungen oder der Arbeit als Helferin oder Helfer
  • im Ausland erworbene nicht anerkannte Qualifikationen

Bei EMSA handelt es sich bei der Zielgruppe um erwachsene Migrantinnen und Migranten, die über Berufserfahrungen verfügen und im Rahmen des Netzwerkes eine abschlussorientierte modulare Nachqualifizierung absolvieren möchten.

Zielsetzung ist es, Teilnehmende zu einer Nachqualifizierung unter Berücksichtigung der bereits vorhandenen beruflichen Handlungskompetenz im angestrebten Beruf zum Berufsabschluss über die Externenprüfung zu führen.

Inhalte, Methodik und Rahmenbedingungen der fachlichen Feststellung

Die fachliche Feststellung wird bei allen Personen mit beruflicher Erfahrung im angestrebten Beruf in der Nachqualifizierung durchgeführt. Fachliche Feststellung kann sowohl im Rahmen der Förderung beruflicher Weiterbildung (FbW) als auch betrieblicher Bildung stattfinden.

Um das Ziel zu erreichen, Teilnehmende an einer Nachqualifizierung unter Berücksichtigung der bereits vorhandenen Handlungskompetenz im angestrebten Beruf zum Berufsabschluss zu führen, werden in der  fachlichen Feststellung berufliche Kompetenzen bezogen auf ein Berufsbild ermittelt, bewertet und dokumentiert. Berufliche Kompetenzen entsprechen dabei dem Kompetenzverständnis in der Berufsausbildung –  fachtheoretische Kenntnisse und fachpraktische Fertigkeiten.

Das Referenzsystem für die fachliche Feststellung sind die Module.

Ablauf einer fachlichen Feststellung (nach Dellbrück et. al., 2012)

  1. Klärung der Voraussetzungen:
  • Klärung des Referenzberufes
  • Erstellung eines Lebenslaufs
  • Beschreibung der beruflichen Tätigkeiten in Bezug auf den Zielberuf
  1. Fachliches Einschätzungsgespräch:
  • erste Bewertung der Bildungs- und Berufsbiografie in Bezug auf den Zielberuf
  • Auswertung vorhandener Unterlagen in Bezug auf die Modulinhalte der Nachqualifizierung
  • Dokumentation im Einschätzungsbogen
  1. Überprüfung fachlicher Kompetenzen in Bezug auf die Modulinhalte der Nachqualifizierung
  • Bearbeitung von Fragen- und Aufgabensätzen in Theorie und Praxis
  • Ausführung praktischer Aufträge
  • Bewertung der Ergebnisse der Aufgaben und praktischen Aufträge
  • Analyse und Reflexion der Ergebnisse mit den Teilnehmenden
  1. Individuelle Qualifizierungsplanung zum Berufsabschluss:
  • Dokumentation der Ergebnisse im Portfolio NQ nach
  • a) den durch die fachliche Feststellung bestätigten und damit anrechenbaren Modulen und
  • b) den zu absolvierenden Modulen

Die fachliche Feststellung bietet somit die Möglichkeit einzelne Module zu zertifizieren. Dies bedeutet, dass eine Verkürzung des Weges zum Berufsabschluss möglich ist.

Für die Durchführung sind Ausbilderinnen und Ausbildern im jeweiligen Berufsbild notwendig.

Die Dauer ist unterschiedlich. Im Projekt EMSA werden die Verfahrensschritte 1-2 im Beratungsgespräch bei EMSA sowie in der Kompetenzfeststellung nach dem KomPass Plus-Verfahren vor dem Einstieg in ein Nachqualifizierungsangebot umgesetzt. Die Verfahrensschritte der fachlichen Feststellung 3 – 4 werden bei EMSA im viermonatigen Startmodul der Nachqualifizierungsangebote umgesetzt. Die Verfahrensschritte der fachlichen Feststellung können aber auch in anderen Maßnahmestrukturen umgesetzt werden.

Die Module der Nachqualifizierungsangebote sind AZAV zertifiziert und entsprechen somit den Kriterien zur Finanzierung über einen Bildungsgutschein im Rahmen der Förderung beruflicher Weiterbildung (FbW).

Eine alternative Finanzierung gibt es in Berlin aktuell über das Landesprogramm „Ausbildung junger Erwachsener“ für die dort angebotenen Nachqualifizierungsangebote.

Möglich ist darüber hinaus eine Finanzierung über das Instrument Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein.

Ergebnis und Auswertung

Die Ergebnisse der fachlichen Feststellung liegen bei EMSA zum Ende des Startmoduls im Portfolio NQ vor. Das Portfolio dient als Grundlage für eine individuelle Qualifizierungsplanung bis zur Externenprüfung. Dabei werden neben der beruflichen Handlungskompetenz auch andere qualifizierungsrelevante Kriterien, wie beispielsweise Deutsch als Zweitsprache, berücksichtigt.

Zudem dient das Portfolio NQ als Basis für die Antragstellung auf die Zulassung zur  Externenprüfung bei der zuständigen Stelle. Im Rahmen von SANQ wurden Vereinbarungen mit der IHK Berlin sowie drei Innungen über die Zulassung zur Externenprüfung auf Basis des Nachweises der beruflichen Handlungsfähigkeit (Portfolio) anstatt des Nachweises der Anwartschaftszeiten in Höhe des Anderthalbfachen der Ausbildungszeit getroffen.

Die fachliche Feststellung und das Portfolio NQ basieren dabei ebenso wie die direkte Zulassung zur Externenprüfung auf den gesetzlichen Vorgaben nach § 45.2 BBiG und § 37.2 HwO:

Zur Abschlussprüfung [Gesellenprüfung] ist auch zuzulassen, wer nachweist, dass er mindestens das Eineinhalbfache der Zeit, die als Ausbildungszeit vorgeschrieben ist, in dem Beruf tätig gewesen ist, in dem die Prüfung abgelegt werden soll. Als Zeiten der Berufstätigkeit gelten auch Ausbildungszeiten in einem anderen, einschlägigen Ausbildungsberuf. Vom Nachweis der Mindestzeit nach Satz 1 kann ganz oder teilweise abgesehen werden, wenn durch Vorlage von Zeugnissen oder auf andere Weise glaubhaft gemacht wird, dass der Bewerber oder die Bewerberin die berufliche Handlungsfähigkeit erworben hat, die die Zulassung zur Prüfung rechtfertigt. Ausländische Bildungsabschlüsse und Zeiten der Berufstätigkeit im Ausland sind dabei zu berücksichtigen.

Validität und Evaluation

Fachliche Feststellungen werden nur von Ausbilderinnen und Ausbildern im jeweiligen Berufsbild durchgeführt.

Die Validität der fachlichen Feststellung wird durch die Referenz zu den Modulen gewährleistet, welche auf den Inhalten des Ausbildungslehrplans und Rahmenlehrplans des entsprechenden Berufsbildes basieren und mit der zuständigen Stelle abgestimmt werden. Zudem müssen die Ergebnisse der fachlichen Feststellung, das heißt das Portfolio NQ, von der zuständigen Stelle genehmigt werden.

Eine Evaluation der fachlichen Feststellung wurde bisher nicht durchgeführt. Gemessen an der Zielsetzung – Bestehen der Externenprüfung und Integration in den Arbeitsmarkt – erheben die durchführenden Bildungsträger jedoch regelmäßig eine Erfolgsquote.

Anschlussfähigkeit an Arbeitsmarktintegration

Die durch die fachliche Feststellung ermöglichte individuelle Qualifizierungsplanung kann bei vorliegenden und anrechenbaren beruflichen Kompetenzen Kosten für die Kostenträger von FbW-Maßnahmen senken, zum Beispiel im Vergleich zu einer Umschulung.

Die Möglichkeit, über Nachqualifizierungen Teilqualifikationen durch die Absolvierung von Modulen und Modulprüfungen zu erwerben, senkt darüber hinaus sowohl bei den Kostenträgern als auch bei Teilnehmenden die Hürden, einen doch vergleichbar langen Weg zum Berufsabschluss anzutreten. Ziel von FbW-Maßnahmen ist die Integration in den Arbeitsmarkt der Teilnehmenden – im Fall der Nachqualifizierung entweder mit einer Teilqualifikation oder dem Berufsabschluss.

Mögliche Rolle in einem nationalen System der Kompetenzanerkennung

Bundesweit gibt es unterschiedliche Kompetenzfeststellungsverfahren mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Kompetenzverständnissen. Auch für Migrantinnen und Migranten gibt es mittlerweile verschiedene Verfahren. Einen Überblick gibt es zum Beispiel hier.

Bei der fachlichen Feststellung geht es um die Feststellung beruflicher Handlungskompetenzen analog zum Kompetenzverständnis in der Berufsausbildung (fachtheoretische Kenntnisse und fachpraktische Fertigkeiten). Zielgröße ist dabei immer der Berufsabschluss im entsprechenden Berufsbild. Im diesem Zusammenhang gibt es Parallelen, aber auch Unterschiede zur Qualifikationsanalyse nach Prototyping, aber auch zu den Teilqualifikationen im Rahmen der DIHK.

Das Referenzsystem ist in allen drei Verfahren das Berufsbild. Die Verfahren zielen auf die eine effektive und wertschätzende Möglichkeit, den Nachweis der beruflichen Handlungskompetenz zu erbringen.

Es ist erstrebenswert, eine Synergie der Verfahren zu bilden und somit die Verfahren sowohl im Sinne der beteiligten Akteure, als auch der teilnehmenden Personen aufeinander abstimmen zu können.

Resonanz und Transferaktivitäten 

Im Vergleich zur Vorbereitung auf die Externenprüfung, die von allen Menschen genutzt werden kann, die beispielsweise berufliche Erfahrungen in Höhe des Eineinhalbfachen der Ausbildungszeit vorweisen können, kann die Nachqualifizierung und die fachliche Feststellung noch nicht als bundesweit implementiert gesehen werden.

In Berlin hat sich die Nachqualifizierung inklusive der fachlichen Feststellung durch die Gründung von SANQ e.V. (2012) verstetigt. Der Verein besteht aus unterschiedlichen Berliner Bildungsträgern, die Nachqualifizierung nach einheitlichen Standards umsetzen und anstreben, modulare Nachqualifizierung „als dritten Weg“ zum Berufsabschluss zu etablieren.

Mehr Informationen dazu finden hier.

Ziel von EMSA ist es vor allem im Diskurs um an- und ungelernte erwachsene Migrantinnen und Migranten ein Bewusstsein für notwendige Kriterien von Verfahren hinsichtlich einer Zielgröße zu schaffen. Dies geschieht im Rahmen von Fachveranstaltungen wie beispielsweise der DEQA-VET Regionalkonferenz, aber auch im Facharbeitskreis Nachqualifizierung der Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit e.V.

Quellen

Dellbrück, Joachim; Knauer, Stephan; Kühling, Günter: Fachliche Feststellung – Grundlage abschlussorientierter Nachqualifizierung. Berlin 2012. URL: http://www.perspektive-berufsabschluss.de/downloads/Downloads_Projekte_Nachqualifizierung/Nachqualifizierung_Berlin_sanq_fachl_festst_V17_DS_digital.pdf

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Kommentare

  1. / von max

    also ich stell mir das gerade sehr schwer vor in technischen Bereichen der Elektronik oder informatik. Wie soll das gehen? LG Max https://www.elektropruefungen.info

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