Kompetenzen zahlen sich für gering qualifizierte Männer kaum aus

Von Heike Solga und Jan Paul Heisig, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Jeder sechste Mann ohne abgeschlossene Berufsausbildung verfügt über gute alltagsmathematische Kompetenzen…

Das deutsche System der dualen Berufsausbildung gilt als vorbildlich. Im Großen und Ganzen sind die Arbeitsmarktchancen von Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung  tatsächlich sehr gut. Leider gilt dies nicht für Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Studium, die sogenannten (formal) gering Qualifizierten. Deren Arbeitslosigkeitsrisiko ist seit Beginn der 1980er Jahre dramatisch angestiegen (http://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/qualo_2012.pdf) und auch bei der Lohnentwicklung werden sie zunehmend abgehängt.

Liegt dies an den geringen Kompetenzen dieser Gruppe? Offenbar nur teilweise. Dies zeigen unsere Analysen  auf Grundlage von PIAAC, einer 2011/2012 von der OECD durchgeführten Befragung. Die Besonderheit von PIAAC – gelegentlich auch als „PISA für Erwachsene“ bezeichnet – ist, dass die Befragten Testaufgaben in den Bereichen Lesen, Alltagsmathematik und technologiebasiertes Problemlösen bearbeiten mussten. PIAAC unterscheidet sich von früheren Erhebungen zu den Kompetenzen Erwachsener durch eine ausgereiftere Kompetenzmessung und eine größere Länderstichprobe, die bisher 24 Länder umfasst. Bei unseren Auswertungen haben wir uns auf Männer im Kernerwerbsalter von 25 bis 54 konzentriert, da das Erwerbsverhalten insbesondere gering qualifizierter Frauen nach wie vor stark von der familiären Situation abhängt.

Betrachtet man nun mit Hilfe von PIAAC die alltagsmathematischen Kompetenzen  formal gering Qualifizierter, so ergibt sich folgendes Bild: Zwar verfügen die gering Qualifizierten in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern über eher niedrige Kompetenzen. Zugleich zeigt sich aber auch, dass ein beträchtlicher Anteil über höhere Kompetenzen verfügt. In der Alltagsmathematik erreichen etwa 17 Prozent der gering qualifizierten Männer zwischen 25 und 54 – hochgerechnet auf die Bevölkerung entspricht dies etwa 400.000 bis 450.000 Personen – mindestens die Kompetenzstufe 3. Das ist ein Kompetenzniveau, das nach allgemeiner Auffassung auch für anspruchsvollere Tätigkeiten ausreicht.  Dies wird auch deutlich, wenn man Personen betrachtet, die „qualifizierte Tätigkeiten“ (skilled occupations) ausüben – das höchste der vier von der OECD unterschiedenen Tätigkeitsniveaus. In dieser Gruppe erreichen ca. 60 Prozent der Männer im Kernerwerbsalter maximal die Kompetenzstufe 3.

…auf dem Arbeitsmarkt zahlt sich das aber kaum aus

Man könnte davon ausgehen, dass zumindest gering qualifizierte Männer mit höheren alltagsmathematischen Kompetenzen recht gute Arbeitsmarktchancen haben. Dies ist aber nicht der Fall. Wie der linke Teil der Abbildung zeigt, sind gering qualifizierte Männer, die mindestens die Kompetenzstufe 3 erreichen, ähnlich oft erwerbslos wie gering qualifizierte Männer mit niedrigeren Kompetenzen. Bei Männern mit höheren formalen Abschlüssen findet sich der zu erwartende Zusammenhang zwischen alltagsmathematischer Kompetenz und Erwerbslosigkeitsrisiko sehr wohl. Die Abbildung zeigt aber auch: Sind  die Kompetenzen sehr niedrig, dann ist auch der Nutzen einer abgeschlossenen Berufsausbildung gering – das Erwerbslosigkeitsrisiko von Männern, die maximal die Kompetenzstufe 1 erreichen, ist unabhängig vom formalen Abschluss sehr hoch.  Das heißt: Höhere Kompetenzen zahlen sich in Deutschland nicht aus, wenn man keinen Abschluss vorweisen kann. Wenn die Kompetenzen sehr niedrig sind, nützt allerdings auch ein Abschluss wenig. Die Ergebnisse stellen sich ähnlich dar, wenn wir nicht die Erwerbslosigkeitsquote betrachten, sondern das Risiko, un- oder angelernte Tätigkeiten auszuüben, die oft mit niedrigen Löhnen und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen einhergehen. Auch hier finden wir bei den gering Qualifizierten nur sehr schwache Effekte des Kompetenzniveaus.

 

 

Kompetenzen zahlen sich für gering qualifizierte Männer in D kaum aus - ganz anders im Ausland

In anderen Ländern ist dies eher der Fall

Der rechte Teil der Abbildung vergleicht die Situation in Deutschland mit ausgewählten anderen Ländern. Dargestellt ist wiederum der Zusammenhang zwischen Kompetenzen und dem Risiko, nicht erwerbstätig zu sein, nun allerdings nur noch für die gering Qualifizierten. Die USA sind das einzige Land, in dem der Zusammenhang ähnlich schwach ausfällt wie in Deutschland. In den anderen Ländern haben die alltagsmathematischen Kompetenzen einen klaren negativen Effekt auf das Erwerbslosigkeitsrisiko. Auch im internationalen Vergleich gilt übrigens, dass die Zusammenhänge ähnlich ausfallen, wenn wir das Tätigkeitsniveau betrachten.

Das zentrale Ergebnis dieser Analysen ist also: Höhere Kompetenzen zahlen sich für gering qualifizierte Männer in Deutschland kaum aus. Und das müsste nicht so sein, wie der Blick in andere Länder zeigt: In den meisten anderen Ländern profitieren formal gering Qualifizierte wesentlich stärker von höheren Kompetenzen. Ergänzend hinzuzufügen ist, dass sich der Nutzen einer abgeschlossenen Berufsausbildung in Deutschland offenbar in engen Grenzen hält, wenn die allgemeinen Kompetenzen sehr niedrig sind – was für einen nicht zu vernachlässigenden Teil dieser Gruppe zutrifft: In PIAAC erreichen ca. 15 Prozent der 25 bis 54-jährigen Männer mit abgeschlossener Berufsausbildung in der Alltagsmathematik höchstens die niedrigste Kompetenzstufe 1. Hochgerechnet auf die Bevölkerung entspricht dies etwa 1,4 Millionen Personen.

Schlussfolgerungen für die Weiterbildungspraxis

Unsere Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung formaler Qualifikationen in Deutschland. Ohne abgeschlossene Berufsausbildung sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt auch dann sehr schlecht, wenn jemand über höhere Kompetenzen verfügt. Offensichtlich reicht es nicht, nur die allgemeinen Kompetenzen gering Qualifizierter zu erhöhen. Entscheidend ist, dass dies in Verbindung mit beruflichen Nachqualifizierungen (und dem Erwerb entsprechender Zertifikate) geschieht (http://blog.aus-und-weiterbildung.eu/anerkennung-von-kompetenzen-deutschland-muss-nachsitzen/). Zugleich ist es sinnvoll, nicht ausschließlich auf den Erwerb beruflicher Abschlüsse zu achten: Männer mit sehr niedrigen allgemeinen Kompetenzen profitieren kaum von einem beruflichen Abschluss. Die Bekämpfung allgemeiner Kompetenzdefizite muss daher ebenfalls ein wichtiges Ziel von Weiterbildungsangeboten und -aktivitäten sein.

Damit diese doppelte Zielsetzung erreicht werden kann, sind zum einen die Arbeitgeber gefordert, denn der weitgehende Ausschluss gering Qualifizierter von betrieblichen Weiterbildungsangeboten ist einer der Hauptgründe für ihre niedrige Weiterbildungsbeteiligung. Hier spielen auch andere Akteure wie die Arbeitsagenturen, Gewerkschaften und nicht zuletzt die Kammern eine entscheidende Rolle. Um das Nachholen beruflicher Abschlüsse zu erleichtern, bedarf es zum einen einer besseren Anerkennung bereits vorhandener Kompetenzen – unabhängig davon, ob diese im Rahmen früherer, abgebrochener Ausbildungsgänge, beruflicher und ehrenamtlicher Tätigkeiten oder im privaten Bereich erworben wurden. Zum anderen muss es flexible Angebote für den Erwerb von Teilqualifikationen geben. Denn, welche beruflichen Fertigkeiten auf dem Weg zum Abschluss noch erworben werden müssen, unterscheidet sich von Fall zu Fall. Ganz ähnliche Bedarfe gibt es im Übrigen, wenn es darum geht, die Kompetenzen und Abschlüsse von Zuwanderinnen und Zuwanderern anzuerkennen und zu ergänzen. Hier können also zwei Herausforderungen zugleich gelöst werden.

Hinweis: Die Analysen, auf denen dieser Beitrag basiert, entstanden im Rahmen des vom Bildungsministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts „Studie zum Zusammenhang von Kompetenzen und Arbeitsmarktchancen von gering Qualifizierten in Deutschland“ (Fördernummer PLI3061).

 



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