OER und ihr Nutzen für die Bildungspraxis: I’m sexy, but you don’t know it!

Die Open Educational Resources (OER) Bewegung befindet sich – scheinbar – in einer Schachmatt-Situation. Zwar treibt eine stetig wachsende Gruppe OER-Aktiver das Thema mit hoher Motivation voran, diskutiert Fragestellungen, entwickelt Lösungsideen und arbeitet so Schritt für Schritt das theoretische Fundament für den praktischen Einsatz von OER aus. Gleichzeitig kommt das theoretische Thema OER nicht in der Praxis des Lehrens und Lernens an. Auch wenn die theoretischen Argumente für OER gut durchdacht sind, so läuft das Thema OER Gefahr, werbetechnisch zum goldenen Windbeutel zu werden: theoretische Verpackung hui, praktische Nützlichkeit pfui.

 

OER nutzen? Ohne erkennbaren Mehrwert für Lehrende wenig reizvoll!

Die zentrale Frage, die sich die OER-Bewegung stellen sollte, ist daher nicht die, was die Praxis theoretisch tun müsste, damit OER vorwärts kommt. Vielmehr kann nur die Beantwortung der Frage, welchen Mehrwert OER für die Praxis des Lehrens und Lernens bieten, eine breite Implementation von OER voranbringen. Es geht darum, ein überzeugendes Wirkungsversprechen zu OER zu entwickeln und damit eine Antwort auf die Frage: Was bringt mir das praktisch? Das ist nötig, um Bildungsanbieter, Lehrende ebenso wie Lernende zu inspirieren, sich mit OER auseinanderzusetzen. Ohne den Blick auf Mehrwert und Wirkungsversprechen von OER fehlt auch der Diskussion um Finanzierungs- und Geschäftsmodelle die Erdung, wie z. B. Simon Köhl betont.

 

OER in die Praxis tragen: Komplexe Herausforderungen lassen sich nicht einfach lösen!

Die praktische Implementierung von OER voranzubringen, ist ein komplexes Problem. Die Komplexität des Bildungssystems lässt sich schwer in Abrede stellen: Eine hohe Zahl miteinander interagierender Elemente, deren Wechselspiel sich schon durch kleine Veränderungen verschieben kann. Die Interaktion der Elemente ist hoch dynamisch und erzeugt immer wieder neu entstehende Muster, die sich ebenso schnell ändern können wie sie entstanden sind. Zudem hat das System eine Geschichte, die in den gegenwärtigen Aktivitäten eine bedeutsame Rolle spielt. Alles Elemente, die komplexe Systeme kennzeichnen, und die bei Betrachtungen des Bildungssystems aber manchmal zu schnell vergessen werden. OER für alle zum Standard machen – auch wenn das viele Vorteile hätte – geht in einem komplexem System zwar irgendwie, aber sicher nicht einfach mal so – weder bottom-up noch top-down.

Eine deux-ex machina Einheitslösung – wie es die Standardisierung von Best-Practices wäre – ist in einem komplexen System ebenso wenig erfolgsversprechend wie theoretisch gut fundierte und moralisch ammunitionierte Vorgaben von Experten – etwa in Form ausgewählter Good Practices. Eine Zwangsverpflichtung des Bildungssystems auf OER wird den praktisch-sinnvollen Einsatz also ebenso wenig befördern wie auf allen Kanälen ausgestrahlte Brandreden zur Bedeutung von OER für Bildungsgerechtigkeit und Leistungsfähigkeit des Bildungssystems. Wenn es aber gelingt, dass eine große Anzahl von Lehrenden den Einsatz freier Bildungsressourcen und -praktiken ansprechend findet, dann könnte die Geschwindigkeit mit der OER aufgegriffen werden selbst hartgesottene OER Apostel überraschen. Die größte Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, bevor es soweit kommt, ist, die vielfältigen Argumente, warum OER „theoretisch anziehend“ sind, um schlagkräftige Argumente dazu, warum OER auch „praktisch was bringen,“ zu ergänzen.

OER_Trojanisches_Pferd

 

Den Mehrwert von OER finden: Fail faster and follow the fun!

Eine erfolgreiche Entwicklung von Lösungen in komplexen Systemen setzt – glaubt man dem Komplexitätstheoretiker Dave Snowden – auf offene Diskussionen heterogener Akteure, um Lösungsräume auszuloten. Die Einbindung der Zielgruppe in den entstehenden Diskurs ist dabei von zentraler Bedeutung. Gerade mit Blick auf Diskursbeiträge der Zielgruppe, aber auch von Experten wird versucht, frühzeitig schwache Signale zu entdecken, die auf vorhandene Lösungsansätze hinweisen. Ausgehend von diesen lassen sich durch parallel geführter Safe-to-Fail Experimente tragfähige und skalierbare Handlungsstrategien entwickeln. Ein Slogan aus dem Bereich des Gamedesigns – „Fail faster und follow the fun“ Game Developer Magazine, 12/2012, p.44) – bringt dies knackig auf den Punkt.

Bezogen auf OER bedeutet dies, den Diskurs auszuweiten, ihn an den Alltagsdiskurs von Lehrenden anschlussfähig machen und ihn so in die pädagogische Praxis zu tragen. Das könnte bedeuten nicht gleich mit dem Thema OER zu starten, sondern zuerst über die alltäglichen Probleme beim Lehren und Lernen zu reden. Damit geht es dann auch nicht mehr vorrangig darum der Praxis OER schmackhaft zu machen – was bislang aus verschiedenen Gründen eher schlecht gelingt – sondern sich gemeinsam mit der Praxis zu fragen, auf welche Probleme OER denn eine Lösung bieten. Verschiedene Lösungsansätze wären dann in Rückkopplung mit der Praxis zu erproben und – sofern erfolgreich – zu skalieren. Der Setzung von positiven Rahmenbedingungen, etwa der neuen BMBF Richtlinie zur Förderung von OER und gut dotierten Preisen für OER, kann hier eine katalysierende Wirkung zukommen. Beide Aktivitäten bieten einen ersten Rahmen um per Fail-to-Safe Vorgehen schneller vorwärts zu kommen.

 

Es gilt Attraktoren von OER zu finden: I’m sexy and I’ll show it!

Die Öffnung des Diskurses und die schnellere Entwicklungszyklen von Projekten sind aber nur zwei Formen in komplexen Systemen Lösungen zu finden. Weit wirkungsvoller wäre es Attraktoren für den Einsatz von OER zu schaffen – also einerseits direkte Anreize zur Nutzung von OER anzubieten oder andererseits aufzuzeigen wie der Einsatz von OER indirekt einen handlungspraktischen Nutzen abwerfen kann. Denn so innovativ viele Projekte sein mögen – solange sie sich nicht gefragt haben welchen Bedarf sie decken, bleibt ihnen der langsame Tod nach Förderende nicht erspart.

Dabei gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten – gerade qualitative forschender Art – herauszufinden auf welche praktischen Fragen OER eine Antwort bieten können: Die Erhebung von Mikrostories, in denen Praktiker von ihren alltäglichen Problemen berichten, und deren anschließende analytische Zusammenführung mit den Potentialen von OER wäre ein denkbares Vorgehen. Pilotprojekte die verschiedene Ansätze des Einsatzes von OER im Lehr- und Lerngeschehen erproben, beobachten und anschließend weiterentwickeln sind eine andere. Die stärkere Einbindung von Nutzerfeedback durch Umfragen, Fokusgruppen und Interviews ist auf allen Ebenen angeraten. Ein solches Vorgehen ermöglicht eine evolutionäre Weiterentwicklung von OER ebenso wie Open Educational Practices mit Blick darauf was Praktiker wirklich nützlich oder hilfreich finden. Bei diesen Ansätzen stünden dann allerdings weniger OER im Mittelpunkt als die Bedarfe der Praxis. Mit großer Sicherheit ist das aber der aussichtsreichste Weg das Thema voran zu bringen.

 

Der wichtigste Diskurs um OER voranzubringen, dreht sich nicht um OER

Viele der oben genannten Punkte werden bereits in der einen oder anderen Form umgesetzt. Allein mangelt es oft am Touch-Base, also der konsequenten Auseinandersetzung mit und Einbindung der späteren Zielgruppe, insbesondere der Skeptiker. So spiegeln die vorherrschenden Wirkungsversprechen mehr die politischen Überzeugungen und Wünsche motivierter Aktivisten wieder, als den Bedarf der Praktiker im Bildungssystem. Damit bleibt der Einsatz von OER zwangsläufig unattraktiv für die letzteren. Ein Instrument dass die Bildungsgerechtigkeit stärkt, ist aus Sicht eines schlecht bezahlten zeitlich überfrachteten Lehrenden, der oftmals mit einer mangelnden Wertschätzung seiner Arbeit konfrontiert ist, nicht das erste Problem, das es zu lösen gilt. Etwas, das eine bessere Bezahlung oder zumindest eine höhere Effizienz der Unterrichtsvorbereitung verspricht, gegebenenfalls noch Impulse für innovativere Unterrichtsgestaltung bietet und jemand zum Teil einer positiv konnotierten Avantgarde macht, schon eher. Aber genau diese Vorteile gilt es nicht nur in Form gängiger Vorurteile zu erraten – wie ich das hier mache -, sondern im Kontakt mit der Praxis empiriebasiert auszuloten.

Neben die bildungs- und gerechtigkeitstheoretischen Begründungen träte dann ein neuer Diskurs. Einer, in dessen Zentrum die Frage steht „Was treibt dich als Lehrender eigentlich um und an.“ Auch wenn in diesem Diskurs das Wort OER nicht gleich mit in der Headline auftaucht, glaube ich, dass das der wichtigste Diskurs von allen ist, wenn die Praxis für OER Feuer fangen soll.



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