Sind Migranten in Deutschland willkommen?

Aus Sicht des angesehenen US-Think Tank Brookings Institution erleben wir derzeit eine Zeitenwende. „So etwas hat man seit dem Ende des 2. Weltkrieges nicht mehr gesehen“, zitiert Brookings den Migrationsexperten Leonard Doyle mit Blick auf die andauernde Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Staaten wie Libyen oder Eritrea kollabieren, versinken wie Nigeria, Irak oder Syrien in blutigen Kriegen. Ganze Regionen sind instabil, Millionen Menschen nehmen existenzielle Risiken auf sich auf der Flucht vor Chaos und Gewalt.

 

Europa erlebt eine Zeitenwende

Es ist mit den Händen zu greifen: Jene Nachkriegsordnung, die die Welt fein säuberlich und zu Gunsten der westlichen Staatengemeinschaft in Industrie-, Schwellen und Entwicklungsländer sortierte, gerät ins Rutschen, und ans Tageslicht drängen massive, anhaltende Konflikte, die die alte Ordnung eher kaschiert als gelöst hat.

Was kann ein Land wie Deutschland tun? Experten fordern eine Ausweitung und Neuausrichtung der Entwicklungshilfe  sowie eine Humanisierung der Asylpolitik. Wirtschaftsinstitute verlangen die Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts für Flüchtlinge  – letzteres ein deutlicher Indikator dafür, dass der derzeitige Mangel an Fachkräften in einigen Berufen und der demographiebedingt starke Rückgang des künftigen Erwerbspersonenpotenzials eine bemerkenswerte Bereitschaft nach sich zieht, mit alten politischen Tabus in der Integrationspolitik zu brechen.

 

Das Einwanderungsland Deutschland muss seine Willkommenskultur stärken

Migrationsforscher aber sagen, dass das allein nicht reicht, sondern dass sich auch Deutschland selbst verändern muss. Denn eine von stetiger Einwanderung geprägte Gesellschaft führt zwangsläufig zu einer enormen kulturellen Vielfalt, in der Fragen der nationalen Identität und Teilhabe immer neu ausgehandelt werden müssen. Nur wenn das Land sich für seine neuen Mitbürger öffnet und sie inkludiert, kann eine Einheit der Verschiedenen entstehen (bpb).

Der Begriff der „Willkommenskultur“ spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. So schillernd er im Detail auch ist, so ist doch klar, dass alle Integrationsbemühungen daran hängen, inwieweit ein Land den Neuankömmlingen mit Offenheit begegnet, sie auf ihrem Weg in die Mitte der Gesellschaft unterstützt und ihnen zugleich verdeutlicht, mit welchen Erwartungen sie in Deutschland konfrontiert sind. Eine vitale Willkommenskultur umfasst all das, konkretisiert sich in staatlichem Handeln ebenso wie in zivilgesellschaftlicher Praxis in Kommunen, wo Migranten leben.

 

Was denken die Menschen in Deutschland über Willkommenskultur? – Zwei Umfragen

Zwei Umfragen 2012 hat die Bertelsmann Stiftung erstmals in einer Emnid-Umfrage ermittelt, wie es um die Willkommenskultur in Deutschland steht . 2015 haben wir die Umfrage wiederholt und können nun erste Befunde und Veränderungen beschreiben (aktuelle Ergebnisse der Umfrage).

 

Deutschland ist ein reiferes Einwanderungsland geworden

Die wichtigsten Erkenntnisse:

  • Die Willkommenskultur wird positiver gesehen. Mehr Menschen als noch 2012 glauben heute, dass Einwanderer in Deutschland willkommen sind. Das ist umso erstaunlicher, als dass die Umfrage im Januar 2015 durchgeführt wurde, also in der Hochphase der ausländer- und islamfeindlichen Pegida-Demonstrationen. Dennoch: Waren 2012 49 Prozent der Befragten der Meinung, dass Einwanderer on der Bevölkerung freundlich empfangen werden, sagen das heute sechs von zehn Befragten.
  • Das Einwanderungsland Deutschland gewinnt an Reife. Einerseits sehen sich Einwanderer mit gestiegenen Erwartungshaltungen konfrontiert, etwa hinsichtlich der Anpassung an die deutsche Kultur oder mit Blick auf ein gutes Zusammenleben mit Deutschen. Zugleich steigt aber auch die Bereitschaft, Einwanderer mit gezielten Hilfestellungen zu unterstützen. Zum Teil deutliche Mehrheiten der Befragten plädieren für erleichterte Einbürgerungen, Antidiskriminierungsgesetze oder die Anerkennung von im Ausland erworbenen Schul- und Berufsabschlüssen.
  • Eine große Mehrheit (84 Prozent) spricht sich dafür aus, Flüchtlingen einen raschen Zugang zum hiesigen Arbeitsmarkt zu gewähren. Neun von zehn Befragten sehen dabei in Sprachkursen (auch und gerade für Kinder), eine zentrale Voraussetzung für gelingende Integrationsprozesse.

 

Der demographische Wandel wird unterschätzt

  • Die Dimensionen, mit der der demographische Wandel Deutschland in den kommenden Jahrzehnten verändern wird, wird unterschätzt – so glaubt immer noch jeder Vierte, dass die Bevölkerung ohne Zuwanderung bis 2060 nicht oder kaum schrumpfen wird, während Modellrechnungen einen Rückgang um über 20 Millionen Menschen prognostizieren. Entsprechend uneinig sind sich die Befragten darüber, mit welchen Strategien eine älter werdende Gesellschaft einem drohenden Fachkräftemangel begegnen soll. Während jeder Fünfte der Ansicht ist, es gebe gar keinen Mangel an Fachkräften in Deutschland, meinen 34 Prozent, Deutschland müsse mehr Fachkräfte aus dem Ausland holen, um der demographischen Entwicklung zu trotzen. Fast jeder Zweite (43 Prozent) macht aber deutlich, dass die Anwerbung ausländischer Fachkräfte nur erfolgen sollte, wenn die Herkunftsländer dadurch in ihrer Entwicklung nicht beeinträchtigt werden.

Deutschland bleibt also, wie schon die Umfrage 2012 gezeigt hat, in vielen Fragen rund um das Einwanderungsgeschehen ein gespaltenes Land. Doch zugleich wird das Selbstbild, ein Einwanderungsland zu sein, selbstverständlicher und es zeichnet sich ab, dass viele Detailfragen pragmatisch nach Nutzenerwägungen beantwortet werden. Diese Trends sind in Westdeutschland allerdings ausgeprägter als in Ostdeutschland, wo in Teilen der Bevölkerung die Skepsis gegenüber Migranten wächst. Was auch deshalb bedenklich stimmt, weil in Ostdeutschland praktisch kaum Migranten leben – und gleichzeitig dort die Folgen des demographischen Wandels besonders stark zu spüren sein werden. Zumindest im Osten Deutschlands also keine optimalen Voraussetzungen, um einer Zeitenwende zu begegnen.



Kommentar verfassen