Weiterbildung 4.0 – nah am Bedarf der Lernenden, nah an den Erfordernissen der Lebenswelt, immer orientiert am individuellen Entwicklungspotential

Wie kann eine Weiterbildungslandschaft aussehen, die einerseits Menschen Orientierung in einer hoch komplexen, sich schnell verändernden Welt bietet und die andererseits diese Menschen mit Blick auf zukünftige Entwicklungen im Leben weiter bringt? Eine Weiterbildung also, die dadurch, dass sie Menschen bewegt, Zukunft gestaltet?

Diese Frage haben sich in der Vergangenheit viele Experten gestellt, jedoch bleiben die Antworten oft theoretisch. Eine hoch relevante, in der Praxis verankerte Antwort auf die Frage geben Baethge, M./Baethge-Kinsky, V. in der Studie „Der ungleiche Kampf um das lebenslange Lernen“ bereits 2004. Sie formulieren drei Grundprinzipien für die Weiterbildung der Zukunft. Ihr Konzept lässt sich auf die Formel Nutzer-, Lebenswelt- und Kompetenzorientierung bringen.

 

Weiterbildung 4.0 eröffnet Handlungsoptionen, um mit zukünftigen Unsicherheiten umzugehen

Kennzeichnend für unseren Alltag ist eine zunehmende Unsicherheit: Unsere Lebenswelten werden komplexer, wandeln sich schnell und sind zunehmend anfälliger für kurzfristig eintretende Krisen. Vor diesem Hintergrund fällt es uns schwer Orientierung im Leben zu finden, denn vollständige Sicherheit bieten weder unsere eigene Lebenserfahrung noch extern eingeholte Expertenmeinungen. Es scheint daher angebracht, dass der Einzelne auch bezogen auf das eigene Lernen zum „Manager seiner selbst“ wird, wie es der Soziologe Dirk Baecker schon 2005 formuliert.

Welche Rolle kann vor diesem Hintergrund die Weiterbildung spielen? Reicht es wie bisher ein Angebot top-down vorzugeben, auch wenn sich dieses an den jahrelang gesammelten Erfahrungswerten zum Bedarf von Individuen und Gesellschaft orientiert? Oder lohnt es sich über andere Formen der Angebotsgestaltung nachzudenken, die der gesteigerten Dynamik unserer Lebenswelt Rechnung tragen? Formen die von einem aktiven Bild des Lernenden ausgehen, für die ein positives Bild des Lernens kennzeichnend ist und die Handlungsspielräume eröffnen anstatt ein Korsett vorzugeben?

Letztere Formen entsprechen dem, was sich die Autoren der Studie „Der ungleiche Kampf um das lebenslange Lernen“ unter einer zukünftigen Weiterbildung vorstellen. Sie gehen davon aus, dass in Zeiten erhöhter Unsicherheit ein Lernen auf Vorrat keinen Sinn mehr macht. Und sie warnen davor, die Weiterbildung auf den Erwerb von „passgenauen“ Qualifikationen für eine Zukunft auszurichten, deren Konfektionsgröße noch völlig unbekannt ist. Lebensläufe, so die Autoren, sind unplanbar geworden, zudem haben auch altgediente Anbieter lebenslangen Lernens immer seltener einen Überblick darüber, was an Wissen und Fähigkeiten zukünftig gebraucht wird. Es macht also Sinn über neue Verbindungen von Angebot und Nachfrage nachzudenken, welche:

– den lernenden Menschen als Experten seiner selbst ins Zentrum stellen

– die Lebenswelt als Ausgangspunkt zu gestaltender Lernumgebungen verstehen

– den Erwerb und Ausbau von Kompetenzen dann fördern, wenn sie gebraucht werden.

 

Das Prinzip Nutzerorientierung:

Weiterbildung 4.0 baut auf einem neuen Verhältnis von Individuum und Institution auf

In komplexen, sich schnell verändernden Gesellschaften ist lebenslanges Lernen fester Bestandteil der Lebensgestaltung und Lebensplanung. Es ist unvermeidliches Ergebnis einer gestiegenen Vielfalt von kulturellen Erfahrungen, die jeder einzelne jeden Tag macht. Gleichzeitig trägt es dazu bei, die Handlungsfähigkeit bezogen auf die Gestaltung des eigenen Lebens aufrecht zu erhalten.

Wenn sich private wie berufliche Anforderungen ständig verändern und das Ziel lebenslangen Lernens der Erhalt persönlicher Autonomie ist, dann kann nur der Lernende selbst eine sinnvolle Aussage über den persönlichen Lernbedarf machen. Er ist es – als Experte seiner selbst – der am besten sein eigenes Lernen organisieren und verantworten kann.

Weiterbildung 4.0 sollte dieser Erkenntnis Rechnung tragen, indem sie ein neues Verhältnis von Weiterbildungsnutzer und Weiterbildungsanbieter zu ihrer Grundlage macht: Indem sie Weiterbildung „personalisiert“. Die Rolle des Lernenden verändert sich dabei weg vom Konsumenten, der in klar begrenzten Lernzeiten und -räumen genau umrissene Lernangebote wahrnimmt, hin zum Koproduzenten des Lernens der sowohl Zeit, Raum als auch Form und Inhalt des Lernens zusammen mit der Weiterbildungsinstitution entwickelt. Die Angebotsgestaltung erfolgt bei diesem Typ von Weiterbildung daher idealerweise nachfrage- und nicht angebotsorientiert.

„Die Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitskräften wird in Zukunft nicht nur allgemein von ihren Chancen, ihrer Fähigkeit und Bereitschaft zu lebenslangem Lernen abhängig sein […], sondern von einem bestimmten Typus von Lernen im Erwachsenenalter. Dieser zeichnet sich durch eine hohe Fähigkeit zur Selbstorganisation und -steuerung von Lernaktivitäten und zur Antizipation von Lernerfordernissen aus.“ (Baethge, M./Baethge-Kinsky, V. (2004): 137)

Die Personalisierung der Weiterbildung gelingt dort, wo einerseits die Institutionen die Lernenden als Koproduzenten ernst nehmen und ihnen ausreichende Beteiligungsmöglichkeiten bei der Planung sowie Durchführung von Weiterbildung einräumen und wo andererseits die Lernenden über ausreichende Kompetenzen zu eigenständiger Planung und Organisation von Lernen verfügen. Vorausgesetzt ist dabei, dass sie über ihren persönlichen Entwicklungsstand ebenso Bescheid wissen wie über ihr Entwicklungspotential und über die Entwicklungschancen, die ihnen ihre Lebenswelt bietet. Es setzt auch voraus, dass die Lernenden ihren Lebens- und Lernweg vorausschauend gestalten – sie sich also reflexiv-entwicklungsorientiert mit sich und ihrer Umwelt auseinandersetzen.

Allerdings sind diese Kompetenzen gerade bei den Personengruppen, die gemeinhin als bildungsfern bezeichnet werden, oft wenig ausgeprägt. Eine erste Herausforderung bei der Etablierung personalisierten Lernens ist es daher, die Kompetenz zur Selbstorganisation und Selbststeuerung des Lernens bei denen zu stärken, die in ihrem Leben erst wenig Lernerfahrung gemacht haben. Dazu sind Lernformen nötig, die ausreichende motivationale Unterstützung für all jene Lerner bieten, bei denen diese Kompetenzen schwach ausgeprägt sind und die den sukzessiven Ausbau dieser Kompetenzen ermöglichen.

 

Das Prinzip Lebensweltorientierung:

Weiterbildung 4.0 gestaltet in Arbeit und Leben eingebettete Lernumgebungen

Ihre zentralen Lernerfahrungen machen Menschen nicht vorrangig in Bildungsinstitutionen, sondern im Privat- und Arbeitsleben. Bereits in der Studie von Baethge/Baethge-Kinsky von 2004 findet mit 67% die Mehrheit der befragten Personen, dass „arbeitsbegleitendes und privates Lernen“ den wichtigsten Lernkontext darstellt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die BIBB/BAuA Erwerbstätigenbefragung von 2012, die erhebt wodurch die Befragten die Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben, die sie in ihrer aktuellen Tätigkeit benötigen. Insgesamt 42% geben hier die Berufserfahrung als Ankerpunkt ihres gegenwärtigen Kompetenzprofils an. Nur 13% verweisen auf die Weiterbildung. Geht man davon aus, dass unter dem Begriff „Andere Herkunft“ ebenfalls informelle Lernformen zusammengefasst werden, ergibt sich sogar ein Wert von 54%. Die Deutlichkeit des Ergebnisses ist dabei in beiden Studien unabhängig vom Schul- und Berufsabschluss der Befragten.

Neben einer Neuausrichtung der Weiterbildung an den Bedürfnissen der Individuen, ist somit eine stärkere Verzahnung der Weiterbildung mit insbesondere betrieblichen Lernumgebungen sinnvoll. Arbeitsintegriertes, oder arbeitsnahes Lernen hat mehrere Vorteile. Erstens kann es eng an konkreten Lernbedarfen ausgerichtet werden und hat damit einen hohen Effizienzgrad. Durch seine Praxisnähe hat es zweitens einen stärker motivierenden und nachhaltigen Charakter als das praxisferne Lernen auf Vorrat. Durch den Einsatz neuer Medien können drittens Lernarrangements geschaffen werden, die ein Lernen ermöglichen, das sich fast störungsfrei in private und berufliche Lebenswelten einbetten lässt.

Der größte Vorteil des informellen, in Lebenswelten eingebetteten Lernens ist aber, dass es gerade den Bedürfnissen bildungsferner Personengruppen entspricht. So betonen Baethge/Baethge-Kinsky, dass in ihrer Erhebung insbesondere die Personen mit geringerem Qualifizierungsniveau die hohe Bedeutung des informellen Lernens betonen. Das Problem ist allerdings, dass genau die Personengruppe, die informellem Lernen einen hohen Stellenwert beimisst im privaten wie beruflichen Alltag den schlechtesten Zugang zu lernförderlichen Umgebungen und Medien hat – als Beispiel seien hier nur die Gruppen der Geringqualifizierten und Arbeitslosen genannt. Eine zweite Herausforderung bei der Etablierung personalisierten Lernens ist es deswegen Gelegenheitsstrukturen für jene Personen zu schaffen, die bisher zu lernförderlichen Lebens- und Arbeitswelten keinen Zugang haben. Dabei gilt es sowohl für die Anbieter der Lernsettings als auch für die Lernenden selbst Anreize zur Öffnung und Nutzung derselben zu setzen.

Lernformen_1

 

Das Prinzip Kompetenzorientierung:

Weiterbildung 4.0 stellt Entwicklungspotentiale und Entwicklungschancen ins Zentrum

Weiterbildung als Begriff stellt das Wort „weiter“ nicht umsonst an den Anfang. Schließlich geht es beim lebenslangen Lernen nicht darum auf der Stelle zu treten, sondern darum weiter zu kommen.

War bis in die jüngere Vergangenheit noch die umfassende Sammlung von Weiterbildungszertifikaten ein guter Garant dafür beruflich aufzusteigen, hat sich die Situation mit zunehmender Diversifizierung der Lebens- und Arbeitswelten verändert. Der einmal erworbene Berufsabschluss oder die standardisierte Zusatzqualifikation sichern heute nur noch bedingt das berufliche Vorwärtskommen. Vielmehr stehen mittlerweile fachliche wie fachübergreifende Kompetenzen im Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn es um die Bewertung von passenden Kandidaten für eine Stelle geht. Dabei zeichnet sich Kompetenz in Abgrenzung zu Qualifikation durch ihre schwer greifbare, immer erst in der konkreten Handlungssituation manifest werdende Qualität aus. So versteht das BIBB Kompetenz als „die Verbindung von Wissen und Können in der Bewältigung von Handlungsanforderungen […]. Kompetent sind die Personen, die auf der Grundlage von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten aktuell gefordertes Handeln neu generieren können. Insbesondere die Bewältigung von Anforderungen und Situationen, die im besonderen Maße ein nicht standardmäßiges Handeln und Problemlösen erfordern, wird mit dem Kompetenzkonzept hervorgehoben.“

Bei der Kompetenzorientierung geht es also nicht um Lernen auf Vorrat, sondern um Handlungs-, Innovations-, und Lernfähigkeit im Alltag. Eine dritte Herausforderung bei der Etablierung personalisierten Lernens ist es so einerseits, Lernformen zu finden die in ihrem Ergebnis genau diese Handlungs-, Innovations-, und Lernfähigkeit bei Menschen entwickeln sowie andererseits Lebens- und Arbeitswelten so zu gestalten, dass in ihnen ein derartiges, kompetenzorientiertes Lernen ausreichend Platz finden kann. Dass die informell erworbenen Kompetenzen dann auch anerkannt werden sollten, müsste sich eigentlich von selbst verstehen, wie Beispiele aus Europa zeigen.

 

Selbstorganisation, Gelegenheitsstrukturen und Praxisbezug:

Weiterbildung 4.0 stellt besondere Anforderungen an Individuen und Institutionen

Drei Aspekte kennzeichnen den Autoren der Studie „Der ungleiche Kampf um das lebenslange Lernen“ zufolge eine unserer dynamischen Gesellschaft angemessene Weiterbildung: Nutzerorientierung, Lebensweltorientierung und Kompetenzorientierung.

Um alle drei Aspekte umzusetzen, bedarf es auf Seiten der Nutzer eines hohen Maßes an Selbstorganisation und Selbststeuerung zur Gestaltung des Lernens; auf Seiten der privaten und beruflichen Lebenswelten einer Vielfalt von Gelegenheitsstrukturen zum Lernen und auf Seiten der Lernformen sowie -inhalte einer Fokussierung auf ein Lernen, das eine hohe Praxisbezug für den privaten wie beruflichen Bereich hat. Auch wenn die Studie von Baethge/Baethge-Kinsky damit die Frage beantwortet hat welche Eckpfeiler eine moderne, personalisierte Weiterbildung auszeichnen, bleibt bei ihnen die Frage offen, mit welchen Lernarrangements das informelle Lernen so gestaltet werden kann, dass seine „problematischen Seiten“ behoben werden. Dies ist, den Autoren zufolge, die zentrale Frage die beantwortet werden muss, wenn das Entwicklungspotential gerade bildungsferner Gruppen entfaltet werden soll.

 

Baethge, M./Baethge-Kinsky, V. (2004): Der ungleiche Kampf um das lebenslange Lernen. Münster
Baecker, D. (2005): Manager seiner selbst sein, in: Wilhelm Schmid (Hrsg.), Leben und Lebenskunst am Beginn des 21. Jahrhunderts. München: Fink, 2005, S. 25-37.
Hall, A./Siefer, A./Tiermann, M. (2013) BIBB/BAuA-Erwaerbstätigenbefragung 2012 – Arbeit und Beruf im Wandel. Erwerb und Verwertung beruflicher Qualifikationen. Suf_1.0. Bonn.



Kommentar verfassen