Wo wir lernen, was wir können

Blogbeitrag von Gunvald Herdin und Monika Fischer.

Das meiste was wir in Beruf und Alltag wirklich brauchen, lernen wir informell. Wenn es ums berufliche und alltägliche Weiterkommen geht, richten wir uns immer noch nach dem formal erworbenen Wissen. Ist das wirklich sinnvoll und gerecht?

Was wir können, lernen wir meist informell. Warum sind formale Abschlüsse dann so gefragt?

Formale Abschlüsse bestimmen weitgehend die Teilhabe im deutschen Arbeitsmarkt. Wer einen Abschluss hat, findet eher Arbeit, ist seltener arbeitslos, befindet sich seltener in prekären Beschäftigungssituationen und hat bessere Aufstiegschancen. Dabei zählt nicht immer das Können. Formale Abschlüsse signalisieren zwar potenziellen Arbeitgebern, dass wir eine bestimmte Tätigkeit zum Zeitpunkt der Prüfung ausführen können und im Fall der reglementierten Berufe überhaupt erst dürfen, sie stellen aber lediglich einen Indikator dar und bilden keineswegs all das ab, was Menschen können.

Der größte Teil des Lernens hingegen wird bei dieser eingeschränkten Sicht nicht in die Beurteilung dessen, was Menschen können, einbezogen. Das Lernen in formalen Bildungskontexten bildet eben nur einen kleinen Teil des alltäglichen Lernens ab. Meist lernen Menschen informell. Die Ergebnisse informellen Lernens sind jedoch nicht sichtbar und somit nicht auf dem Arbeitsmarkt verwertbar.

66 Prozent der Kompetenzen, die wir beruflich benötigen, haben wir informell oder non-formal erworben

Nur 34 Prozent der Fertigkeiten und Kenntnisse, die wir im Beruf brauchen, erlernen wir in der in der Ausbildung, das zeigt eine Studie des BIBB auf (vgl. Hall, Siefer und Tiemann, 2013). Der Rest entfällt auf Lernwege, die nicht auf Ausbildung, sondern auf Berufserfahrung, Weiterbildung oder auch durch das Lesen von Fachbüchern, den Austausch mit Experten über das Internet und den Besuch von Messen und Tagungen zurückzuführen sind. 66 Prozent unseres Könnens findet sich also nicht in Zertifikaten der formalen (Aus-)Bildung wieder – und dabei blicken wir nur auf das Feld beruflich relevanter Kenntnisse und Fähigkeiten.

Eine Frage der Gerechtigkeit: alle sollten die Möglichkeit haben ihre Kompetenzen anerkennen zu lassen

Ein Großteil unserer Kompetenzen ist informell erworben, trotzdem treffen Arbeitgeber berufliche Entscheidungen zumeist auf Basis formaler Abschlüsse. Wir sollten darüber nachdenken, wie die Ergebnisse aller Formen des Lernens gemeinsam in den Blick genommen werden können.

Damit stellt sich die Frage, wo formales Lernen aufhört und informelles anfängt. Angenommen ich habe das gesamte Semester ein Seminar zum Thema Statistik nicht besucht. Stattdessen habe ich einige gute Lehrbücher durchgelesen und die Inhalte abends in der Kneipe mit meinen Mitstudenten diskutiert. Zudem habe ich gelegentliche Webinare zum Thema verfolgt und dazu einen kleinen Blog in einem Forum geführt. Die Prüfung am Ende des Seminars habe ich gut bestanden, auch wenn dies der einzige Termin war, an dem ich wirklich teilgenommen habe. War mein Lernen nun formell oder informell? In der Theorie ist es klar: es handelt sich um Ergebnisse formalen Lernens, die am Arbeitsmarkt verwertbar sind. Das Ergebnis habe ich aber im Grunde mit informellem Lernen erzielt. Ich bestehe also meine Prüfung in Statistik und komme meinem Hochschulabschluss näher, ganz unabhängig davon, ob ich jemals eine Statistikvorlesung besucht habe. Fragt ein formal Geringqualifizierter am Arbeitsplatz, wie eine Wand gemauert wird, bekommt er dies gezeigt und kann am Ende selbstständig eine Wand mauern, so ist er beruflich handlungsfähig, bekommt aber kein Zertifikat über das Erlernte und kann diese Kompetenz nicht am Arbeitsmarkt verwerten. Er bleibt formal geringqualifiziert, obwohl er nach einer Weile vielleicht das gleiche Maß an beruflicher Handlungsfähigkeit erlangt hat, wie der ausgebildete Maurer. Das Ergebnis – berufliche Handlungsfähigkeit – ist das gleiche. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass beim Studierenden eine Einbettung in ein formales Setting besteht und es eine Prüfung gibt, die zu einem staatlich anerkannten Abschluss führt. Kann das gerecht sein?

Wie soll man denn einen Arbeitgeber überzeugen, der – aus durchaus verständlichen Beweggründen – darauf vertrauen muss, dass der berufliche Abschluss gewisse Mindeststandards belegt? Und sollten formal Geringqualifizierte Arbeitgeber doch einmal überzeugen können, so bleiben sie dennoch benachteiligt, denn meist werden dann auch nur Gehälter gezahlt, die für An- und Ungelernte unter denen liegen, die das ausgebildete Personal erhält. Gleiche Arbeit führt dann nicht zu gleichem Lohn. Gewerkschaften und deren Tarifverträge werden für ausgebildetes Personal und nicht für An- und Ungelernte ausgehandelt.

Deutschland braucht ein Anerkennungssystem

Die Motivation für informelle Lernaktivitäten besteht ca. zur Hälfte (47%) aus beruflichen Gründen und zur anderen Hälfte aus privaten Gründen (53%). Für das informelle Lernen spielen somit beide Motivationen eine gewichtige Rolle (vgl. Bilger, Gnahs, Hartmann und Kuper, 2012). Um die Motivation für Lebenslanges Lernen weiter zu erhöhen sollten wir also auch diesen Einsatz würdigen. Dafür müssen wir Kompetenzen erfassen und anerkennen, egal, auf welchem Lernweg und von wem sie erworben wurden. Der Geringqualifizierte Hilfsarbeiter, der die Tätigkeit des Mauers ausführt, muss also die Möglichkeit bekommen, seine informell erworbene Kompetenz anerkennen zu lassen. Was der Student im Rahmen seines Studiums in Form der Statistik-Klausur beweisen kann, fehlt dem Geringqualifizierten. Er braucht auch eine offizielle anerkannte Möglichkeit zu zeigen, was er kann.

Ohne ein System der Anerkennung von informell und non-formal erworbenen Kompetenzen werden wir diese Schieflage von Können und Teilhabe nicht beseitigen können. Natürlich brauchen Arbeitgeber verlässliche Ausweise von beruflicher Handlungsfähigkeit, die ihnen belegen, dass ein potenzieller Mitarbeiter die gewünschte Tätigkeit ausführen kann. Damit dies gewährleistet werden kann, müssen wir aber das würdigen und anerkennen, was Menschen können und nicht (nur) das, was sie auf einem formalen Lernweg erworben haben. Gerade Deutschland ist davon noch weit entfernt (vgl. Gaylor, Schöpf und Severing, 2015).

Broschüre „Wenn aus Kompetenzen berufliche Chancen werden – Wie europäische Nachbarn informelles und non-formales Lernen anerkennen und nutzen“

Literatur:

  • Hall, A., Siefer, A., Tiemann, M. (2013): BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2012 – Arbeit und Beruf im Wandel.
  • Bilger, F., Gnahs, D., Hartmann, J., Kuper, H. (Hg.) (2013): Weiterbildungsverhalten in Deutschland. Resultate des Adult Education Survey 2012.
  • Gaylor, C., Schöpf, N, Severing, E. (2015): Wenn aus Kompetenzen berufliche Chancen werden – Wie europäische Nachbarn informelles und non-formales Lernen anerkennen und nutzen.


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