Ausbildung mit Abitur: Der österreichische Weg für Chancengerechtigkeit?
Die Frage wie sich Bildungssysteme durchlässiger gestalten lassen wird bereits seit längerem in der Bildungspolitik diskutiert, auch im Hinblick darauf, wie sich die Übergänge zwischen der beruflichen und der akademischen Bildung erleichtern lassen. In Deutschland werden seit dem Schuljahr 2017/2018 verschiedene Varianten des sogenannten „Berufsabiturs“ vom Zentralverband des Deutschen Handwerks zusammen mit der Kultusministerkonferenz erprobt, um mehr Menschen mit einer Berufsausbildung den Zugang zur Hochschule zu ermöglichen. Im südlichen Nachbarland Österreich gibt es bereits seit mehr als 10 Jahren landesweit die Möglichkeit der Verbindung einer dualen Ausbildung mit dem Erhalt der Hochschulzugangsberechtigung.
Seit 2008 haben Personen im dualen Ausbildungssystem die Möglichkeit eine sogenannte „Lehre mit Matura“ zu absolvieren. Dabei absolvieren sie am Ende der Ausbildung neben der obligatorischen Lehrabschlussprüfung die Berufsreifeprüfung, die bis dahin nur nach der Lehre zu absolvieren und selbst zu organisieren und zu finanzieren war. Die bestandene Berufsreifeprüfung ermöglicht den Zugang zu allen Studienfächern an allen österreichischen Hochschulen.
Bildungspolitischer Hintergrund zur Einführung der Lehre mit Matura
In Österreich beginnen die Jugendlichen ihre Lehre durchschnittlich bereits im Alter von 16,8 Jahren (Stand 2017), was im internationalen Vergleich als sehr früh eingestuft werden kann. In Deutschland zum Beispiel liegt das Eintrittsalter in eine Ausbildung mittlerweile bei 19,7 Jahren. Die Einführung der Lehre mit Matura kann als Versuch verstanden werden, auch denjenigen den Zugang zur Hochschule zu ermöglichen, die sich bei dem sehr frühen Übergang in die Sekundarstufe II für einen beruflichen Weg ohne Matura entschieden haben.
Die große Konkurrenz der Lehre
Neben dem Aspekt der Chancengerechtigkeit, kann die Lehre mit Matura auch als Hilfsmittel gesehen werden, um die Attraktivität der dualen Ausbildung zu fördern. Rund 24 Prozent der jungen Menschen in Österreich erlangen die Matura auf dem klassischen Gymnasium. Daneben gibt es in Österreich ein breit ausgebautes und vom Arbeitsmarkt hoch anerkanntes vollzeitschulisches Ausbildungssegment: Die Berufsbildenden Höheren Schulen und Berufsbildenden Mittleren Schulen. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen treten in der Sekundarstufe II in eine der beiden Schulen über. Das vollzeitschulische Ausbildungssegment ist daher der meistgenutzte Bildungsweg der Österreicherinnen und Österreicher.
Ein Teil dieser vollzeitschulischen Ausbildungsgänge schließt ebenfalls mit der Matura ab. Die Lehre mit Matura ist also auch ein Mittel die duale Form der Ausbildung neben dieser vollzeitschulischen Konkurrenz weiterhin attraktiv zu halten. Die Durchlässigkeit von der Lehre ins Hochschulsystem ist nun also möglich, ohne dass die Auszubildenden sich im Anschluss an die Lehre – als Selbstzahler – in einem extraschulischen Kurssystem auf die Berufsreifeprüfung vorbereiten müssen.
So funktioniert‘s
Die Berufsreifeprüfung besteht aus vier Teilprüfungen: Deutsch, Mathematik, einer Fremdsprache und dem jeweiligen Fachbereich der Ausbildung. Bei der Lehre mit Matura kann die Vorbereitung während der Lehre entweder außerhalb der Arbeitszeit (berufsbegleitendes Modell) oder während der Arbeitszeit (integriertes Modell) absolviert werden. Das besondere an der Lehre mit Matura für die Auszubildenden ist, dass dieses Angebot für sie kostenlos ist, da es vom Bund finanziert wird. Betriebe, die ein integriertes Modell für die Ausbildung ermöglichen, erhalten eine zusätzliche finanzielle Förderung.
Österreich als Vorbild?
Dieses Beispiel aus Österreich zeigt, wie in einem hochselektiven Bildungssystem ein Teil der daraus resultierenden Chancenungerechtigkeit korrigiert werden soll. Wie stark dieser Effekt tatsächlich ist, wird sich erst in einigen Jahren anhand der Erwerbsverläufe der Absolventinnen und Absolventen untersuchen lassen. Seit 2011 gibt es erstmals Absolventinnen und Absolventen der Lehre mit Matura. Trotz dem die Lehre mit Matura seit ihrer Einführung eine große Beliebtheit genießt, sind die Absolventenzahlen bislang noch sehr überschaubar: Im Mai 2018 verzeichnete das Bildungsmodell insgesamt nur 6.776 Absolventinnen und Absolventen. Allerdings lassen jüngste Zahlen hoffen, denn im Jahr 2018 begannen bereits 9.703 Jugendliche das Modell der Lehre mit Matura, das entspricht ca. 6 Prozent aller Auszubildenden.
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