Beim Übergang von der Schule in den Beruf geht es nicht gerecht zu
„Bildungsaneignung und fleißige Arbeit [bilden] die Eckpfeiler des meritokratischen Modells“
(Mau, 2015, S. 42)
Meritokratisches Modell oder Meritokratie umfasst als Begriff eine zentrale Gerechtigkeitskonzeption der westlichen Moderne. Gemeint ist, dass die gesellschaftliche Position – also Bildungsabschlüsse, Einkommen, Prestige usw. – von der persönlichen Leistung abhängen soll. Gesellschaftliche Ungleichheit ist nach diesem Verständnis insofern gerecht, wenn sie denn aus einem (einigermaßen) fairen Wettbewerb der Gesellschaftsmitglieder resultiert. Das meritokratische Modell entstand als Gegenentwurf der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem dynastischen Modell, bei dem die gesellschaftliche Position von der Herkunftsfamilie abhängt – im Sinne eines Geburtsrechts bzw. einer Geburtspflicht. Leistungsloses Einkommen gilt heute vielen als suspekt. Stattdessen gelten Bildungserwerb, Berufswahl und Einkommen aus eigener Arbeit als Begründung von Rechten und Pflichten. Dass der Zufall der Geburt über den späteren Beruf und die Lebensführung entscheiden sollte, erscheint heute wohl den meisten absurd. Es gilt stattdessen, dass jeder und jede des eigenen Glückes Schmied sein sollte.
Meritokratie bildet das Grundprinzip des Bildungssystems
Wie stark dieses meritokratische Modell unsere gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen prägt, zeigt beispielhaft die Konstruktion des Bildungssystems und des Arbeitsmarkts: In Schulen wird durch konstantes Benoten und Differenzierung nach Schulform bzw. Schulabschlüssen eine dem Anspruch nach objektive und transparente Sortierung der Schüler*innen nach Leistung vorgenommen. Noten und Schulabschlüsse werden dann konsequenterweise auch als Zertifikate genutzt, um Zugänge zur nachschulischen Bildung zu regulieren. Dabei findet keine technokratische Zuweisung zu bestimmten Bildungsgängen entsprechend der Noten statt, sondern es werden Schranken bei der Wahl des folgenden Bildungsgangs errichtet. Hochschulische und anspruchsvollere berufliche Bildungsgänge stehen nur den Inhaber*innen der besseren Schulabschlüsse offen. Je besser der Schulabschluss, desto größer die Wahlfreiheit im Anschluss. Je schlechter der Schulabschluss, desto limitierter die Wahlmöglichkeiten im Anschluss. Das gilt als gerecht, weil gute Abschlüsse als Ergebnis individueller höherer Leistung oder ausgeprägter Begabung gelten.
Auf dem Arbeitsmarkt geht es selten streng meritokratisch zu
In Entsprechung zum Bildungssystem gilt auf dem Arbeitsmarkt grundsätzlich die meritokratische Regel, dass die zuvor erworbenen höheren Bildungsabschlüsse zu höheren Gehältern und besseren Arbeitsbedingungen führen. Allerdings wird mit Verweis auf die meritokratische Leistungsgerechtigkeit in der Öffentlichkeit kritisch diskutiert, wie groß der Abstand zwischen den Top- und Durchschnittsgehältern sein sollte. Ebenso wird hinterfragt, ob die deutlich unterschiedliche Bezahlung für Tätigkeiten mit vergleichbarer Qualifikation gerecht ist. Diese Unterschiede resultieren daraus, dass Gehälter stark von der Branche abhängen. Solche Widersprüche zwischen dem meritokratischen Modell und der Wirklichkeit auf dem Arbeitsmarkt tragen mit dazu bei, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Gesellschaft als ungerecht erlebt (Slide 13).
Der Glaube an das meritokratische Modell hängt besonders stark am Bildungssystem und strahlt gewissermaßen auf den Arbeitsmarkt aus. Letztendlich lässt sich schließlich die individuelle Position auf dem Arbeitsmarkt auf eigene Anstrengungen in der Schulzeit und frei getroffene Entscheidungen im nachschulischen Bildungssystem (Ausbildung, Studium, Fortbildung usw.) zurückführen. Allerdings nur, wenn es im Bildungssystem wirklich gerecht zugeht …
Empirische Bildungsforschung widerlegt meritokratische Leistungsgerechtigkeit
Jedoch widersprechen zahlreiche Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung dem meritokratischen Modell. Sie widersprechen damit der Annahme, dass es im deutschen Bildungssystem und in der Folge auf dem Arbeitsmarkt gerecht zugeht. Immer wieder wurde in wissenschaftlichen Studien gezeigt, dass die Notengebung nicht so objektiv ist, wie sie es zu sein vorgibt. Die Diskussion über die Vergleichbarkeit zwischen dem ‚Bayern-Abitur‘ und dem ‚Berlin-Abitur‘ ist auch jenseits der Fachöffentlichkeit wohl bekannt.
Das wahrscheinlich bekannteste Beispiel für dem meritokratischen Modell widersprechende Zustände im deutschen Bildungssystem, liefern die PISA-Studien. Sie decken auf, dass in Deutschland der Bildungserfolg stärker vom Elternhaus abhängt als in den meisten anderen OECD-Staaten. Wenn Bildungserfolg vererbt werden kann, dann geht es aber höchstens sekundär um individuelle Leistung, denn dann gilt eben das dynastische und nicht das meritokratische Modell.
Beim Zugang zu dualer Ausbildung wirken leistungsfremde Eigenschaften besonders stark
Auch in der beruflichen Bildung geht es wenig meritokratisch zu – obwohl oder gerade, weil der Übergang in die duale Ausbildung marktförmig geregelt ist. Insbesondere beim Übergang der nicht studienberechtigten Schulabgänger*innen in Ausbildung ist das unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten besonders problematisch. Das lässt sich beispielsweise anhand des Ländermonitors berufliche Bildung 2019 nachvollziehen.
Die Ergebnisse des Ländermonitors zeigen, dass der Schulabschluss die Chancen stark beeinflusst, überhaupt einen Ausbildungsplatz zu finden. Mehr als die Hälfte der Personen mit maximal Hauptschulabschluss beginnen keine berufsqualifizierende Ausbildung. Sie beginnen stattdessen eine Maßnahme des sogenannten Übergangssystems. Das ist in vielerlei Hinsicht problematisch, widerspricht dem meritokratischen Modell aber nicht per se. Die bei der Ausbildungsplatzsuche deutlich erfolgreicheren Bewerber*innen mit Real-/Mittlerem Schulabschluss oder Abitur haben immerhin die besseren Schulabschlüsse erworben. Allerdings verbergen sich auch schon hier leistungsfremde Eigenschaften, denn ob Hauptschüler*innen einen Ausbildungsplatz finden oder nicht, hängt nicht nur von ihren messbaren Kompetenzen ab, oft spielen zum Beispiel familiäre Kontakte eine wichtige Rolle. Die Frage der Leistungsgerechtigkeit auf dem Weg bis zum Schulabschluss ist bereits aufgeworfen worden und wird hier nicht weiter vertieft. PISA lässt grüßen …
Wenn auf Eigenschaften wie Wohnort, Migrationshintergrund und Geschlecht geschaut wird, wird die Problematik leistungsfremder Eigenschaften beim Übergang in Ausbildung offensichtlich. Bei gleicher individueller Leistung beeinflussen diese Parameter stark die Chancen, einen Ausbildungsplatz zu finden. Um noch einmal bei den Schulabgänger*innen mit maximal Hauptschulabschluss zu bleiben: Während in Bayern ein Drittel dieser Gruppe keine Ausbildung beginnt, sind es in Bremen und Rheinland-Pfalz fast zwei Drittel. In der Metapher eines Würfelspiels ausgedrückt bedeutet das: Die Mitspieler*innen aus Bayern dürfen ein Feld vorrücken, wenn sie eine Eins bis Vier würfeln, die aus Bremen und Rheinland-Pfalz hingegen nur bei einer Eins oder Zwei. Wirkt nicht sehr gerecht, oder?
Chancengerechtigkeit braucht Ausbildungsmöglichkeiten für alle
Die berufliche Erstausbildung gehört zu den wichtigsten Bildungsangeboten im deutschen Bildungssystem, weil sie den nicht studienberechtigten Schulabgänger*innen den Weg in eine qualifizierte Erwerbsarbeit ermöglicht. Menschen ohne eine Ausbildung sind deutlich häufiger von Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung betroffen. Der Zugang zu einer beruflichen Erstausbildung sollte deshalb nicht vom persönlichen Würfelglück abhängen. Besonders nicht, wenn die Spielregeln auch noch ungerecht sind.
Es wäre aber auch nicht wirklich gerecht, wenn es gerecht zuginge und alle beim Würfeln die gleichen Gewinnchancen hätten. Warum dieses scheinbare Paradox? Ein chancengerechtes Bildungssystem kann nur erreicht werden, wenn Chancengerechtigkeit als etwas begriffen wird, dass durch Bildung herzustellen ist, und nicht als etwas, dass dem Bildungssystem einfach vorausgesetzt wird. In der gegenwärtigen institutionellen Konstruktion verstärkt der Übergang von der Schule in Ausbildung Nachteile, statt sie auszugleichen. Das ist fatal, denn wer keine Ausbildung abschließt, hat später nur geringe Chancen diesen Bildungsnachteil auszugleichen.
Um mehr Chancengerechtigkeit durch Bildung zu ermöglichen, muss mit dem Prinzip gebrochen werden, dass das Bildungssystem umso mehr Lernzeit zur Verfügung stellt, desto erfolgreicher die Bildungsteilnehmer*innen sind. Bisher ist es so: Das Gymnasium dauert länger als Haupt- oder Realschule, ein Studium dauert länger als eine Ausbildung usw. Dieser Ansatz war niemals gerecht und ist heute auch nicht mehr funktional. Statt die nicht erfolgreichen Ausbildungsplatzinteressierten aus dem Spiel zu werfen und ihnen den Zugang zu wertvoller Lernzeit zu verwehren, brauchen sie den Zugang zu einer vollqualifizierenden Erstausbildung – mit zusätzlicher Unterstützung und ggf. zeitlicher Streckung. Chancengerechtigkeit am Übergang in Ausbildung bedeutet, dass jede Person die Möglichkeit erhält, in einer echten Ausbildung zu zeigen, was sie oder er wirklich kann!
Literaturhinweis
Mau, S. (2015). Die halbierte Meritokratie. In S. Mau & N. M. Schöneck-Voß (Hrsg.), (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten (Edition Suhrkamp, Bd. 2684, Orig.-Ausg., 1. Aufl.). Berlin: Suhrkamp.
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