Die im Dunkeln sieht man nicht: Informell erworbene Kompetenzen sichtbar machen – Blogstöckchen Teil 4

Bildungspolitische Themen sind selten naturwüchsig, in der Regel schaffen sie es nicht ohne Anlass auf die politische Agenda. Meistens stehen dahinter Agenda Setting, politische Programme, Strategien, Interessen und Zwecke – die nicht immer unmittelbar die richtige Lösung für gesellschaftliche Probleme bieten müssen, die sich aber auf ein Problem beziehen und auf einen Bedarf reagieren. Im 19. Jahrhundert reagierte der junge Nationalstaat auf den Bedarf einer standardisierten Ausbildung mit der Einführung eines ausdifferenzierten Bildungs- und Qualifikationssystems mit formalen Bildungsgängen, Prüfungen und Zertifikaten (Fend 2006). Bis heute entscheidet dieses System mit seinen Zertifikaten weitgehend über die Zugänge zu und den Ausschluss von Bildungsgängen genauso wie über die Zugänge zu Berufen und Beschäftigung. Neben der Selektion durch Bildung resultieren daraus so unterschiedliche wie wirkmächtige gesellschaftliche und auch bildungspolitische Probleme, die unter den Begriffen „Bildungsschisma“ (Baethge u.a. 2007) oder „doppelte Selektivität der Weiterbildung“ (Faulstich 1981) lange schon zum Mainstream der bildungswissenschaftlichen Debatte gehören. Kritisch und vorurteilsfrei gilt es deshalb nicht nur neue Vorschläge und Initiativen, sondern auch die etablierten Strukturen zu beurteilen – nur weil die Dinge schon lange so sind, wie sie sind, sind sie nicht automatisch auch hilfreich und vernünftig.

Wenn nun gegenwärtig darüber diskutiert wird, wie Verfahren der Anerkennung non-formal und informell erworbener Kompetenzen in Deutschland institutionalisiert werden können, dann folgt dieser Diskurs auch einem Bedarf. Angesichts der beachtlichen Menge an geringqualifizierten Personen in Deutschland, die Rede ist hier von knapp 18% der Erwerbspersonen (Mikrozensus 2009), kann man die Notwendigkeit von Validierungsverfahren eigentlich nicht ernsthaft bestreiten – zumindest nicht ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, den Personen von vorneherein relevante Kompetenzen abzusprechen, ohne das jedoch jemals nachgeprüft zu haben. Allein die Möglichkeit, dass bei dieser Personengruppe wertvoller Kompetenzerwerb durch Berufstätigkeit und Berufserfahrung eine Rolle gespielt haben könnte, sollte angesichts ihrer existenziellen Gefährdung durch Geringqualifikation sozial- und beschäftigungspolitisch Anlass genug sein, entsprechende Verfahren der Kompetenzfeststellung und Zertifizierung zu schaffen. Dabei müsste es allerdings um Verfahren gehen, die nicht wie die wenigen bestehenden Angebote vor der Zielgruppe vielfach gut versteckt werden und die durch ihre Konzeption eigentlich eher Barrieren schaffen als Möglichkeiten auftun.

Eine besondere Rolle kommt in der Debatte um die Anerkennung informellen Lernens den Betrieben zu. Im Rahmen von PE-Maßnahmen haben informell im Arbeitskontext erworbenen Kompetenzen eine wichtige Funktion. Die Planung von Entwicklungsschritten und Karrierewegen basiert in aller Regel auf dem informellen Erwerb einer Art von Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, die Beschäftigte mittels und in ihrer Arbeit erwerben. Erkennbar werden diese Kompetenzen indirekt durch die erfolgreiche Bewältigung der Arbeitsaufgaben an den Arbeitsplätzen, zur Sprache kommen sie in Mitarbeiter- und Entwicklungsgesprächen. Diese „de-facto-Anerkennung“ (Dehnbostel et al. 2010) von informell erworbenen Kompetenzen dominiert seit langem in unterschiedlichen methodischen Settings die Personalentwicklung und Karriereplanung in den Unternehmen. Voraussetzung dafür allerdings ist, dass die Personen bereits Teil des Unternehmens sind. Die betriebliche Anerkennung und Berücksichtigung von informell erworbenen Kompetenzen beginnt in der Regel erst hinter dem Werktor. In den Auswahl- und Recruitingphasen für neue MitarbeiterInnen ist sie nicht erkennbar ausgeprägt – evtl. auch deshalb, weil hier als Nachweis solcher Kompetenzen nicht viel anderes als mehr oder minder aussagekräftige und valide Arbeitszeugnisse zur Verfügung stehen. Schon bei der Auswahl für Assessments und Vorstellungsgespräche wirkt der Filter der formalen Zertifikate: Sind sie nicht vorhanden, verringert sich die Chance auf Zugang zu Beschäftigung erkennbar – evtl. auch trotz guter beruflicher Fähigkeiten.

Wichtig wäre es, weitere Schritte auf dem Weg zu einer tragfähigen Kultur der Anerkennung von solchen Lernergebnissen zu gehen, die außerhalb der gewohnten Lernpfade erworben werden. Die geringqualifizierten Personen genauso wie die Betriebe benötigen eine Grundlage, auf der informeller Kompetenzerwerb seriös beurteilt und bescheinigt wird. Die Konsequenz hieraus kann eigentlich nur sein, die Betriebe und Stakeholder möglichst aktiv an der Ausgestaltung solcher Verfahren zu beteiligen. In anderen europäischen Ländern erfolgt das bereits durchaus mit Erfolg. Und gerade die berufliche Bildung, die in der Vergangenheit oftmals innovativ gewirkt hat, sollte hier nicht zaudern, sondern ihre vorhandenen Stärken in der Kompetenzerfassung einbringen.

Quellen:

  • Baethge, M. / Solga, H. / Wieck, M. (2007): Berufsbildung im Umbruch. Berlin
  • Fend, H. (2006): Geschichte des Bildungswesens. Wiesbaden
  • Faulstich, P. (1981): Arbeitsorientierte Erwachsenenbildung. Frankfurt/Main
  • Dehnbostel, P. / Seidel, S. / Stamm-Riemer, I. (2010): Einbeziehung von Ergebnissen informellen Lernens in den DQR – eine Kurzexpertise. O.O.

Bisherige Beiträge zum Blogstöckchen #dukannstwas:

1. “Kompetenzanerkennungskompetenz”  #dukannstwas – Blogstöckchen Teil 1

2. Kompetenzen: „Die Betriebe müssten auch ‚lesen‘ können, was Validierungsergebnisse aussagen“ – Blogstöckchen Teil 2

3. Kompetenzanerkennungskompetenz Bottom-up – #dukannstwas Blogstöckchen Teil 3

4. Die im Dunkel sieht man nicht: Informell erworbene Kompetenzen sichtbar machen – Blogstöckchen Teil 4

 

Bildungsberatung und Anerkennung insbesondere von ausländischen Abschlüssen (Präsentation) von Dr. Julia Behrens



Kommentar verfassen