Ablöse für Azubis? Keine Lösung für die Strukturprobleme des Handwerks

Hans Peter Wollseifer, der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), schlägt in einem Interview mit der Deutschen Presseagentur vor, dass Betriebe Ablösesummen zahlen sollen, wenn sie erst kürzlich ausgelernte Auszubildende abwerben. Umgesetzt werden könne dies, indem „Auszubildende in den ersten Jahren nach ihrer Lehre nur dann den Betrieb wechseln dürfen, wenn der neue Arbeitgeber einen Teil der Ausbildungskosten übernimmt“.

Als Begründung für diesen provokanten – und bei der bestehenden Gesetzeslage in dieser Form wahrscheinlich kaum umsetzbaren – Vorschlag führt der ZDH-Präsident an:

  1. dass 2/3 der im Handwerk ausgebildeten Fachkräfte im Laufe ihres Lebens in anderen Wirtschaftsbereichen arbeiteten,
  2. dass viele Auszubildende direkt nach Abschluss der Ausbildung abgeworben werden und damit den ausbildenden Betrieben der Nachwuchs fehle,
  3. dass bei durchschnittlichen Kosten von mehr als 15.000 Euro, die einem Betrieb für eine dreijährige Ausbildung entstehen, den Unternehmen ein wirtschaftlicher Schaden entstehe, wenn die ausgebildeten Fachkräfte danach nicht bleiben,
  4. dass aufgrund der geplanten Mindestausbildungsvergütung ab 2020 vielen Handwerksbetrieben zusätzliche Kosten in der Ausbildung entstünden, wenn sie ihren Auszubildenden im ersten Ausbildungsjahr mindestens 515,– Euro pro Monat zahlen müssen,
  5. dass Handwerksunternehmen die Kosten für höhere Ausbildungsvergütung und steigende Löhne nicht mittels höherer Preise auf ihre Kunden umlegen könnten.

Die entsprechende dpa-Meldung vom 3. Juni 2019 wurde von zahlreichen Medien weitgehend unverändert veröffentlicht, u.a. Zeit, Spiegel Online und Handelsblatt. Die Argumentation von Wollseifer verdeutlicht zentrale Herausforderungen, vor denen insbesondere das Handwerk aktuell steht: Der Mangel an verfügbaren Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt macht sich gerade in diesem Wirtschaftsbereich bemerkbar und gleichzeitig können viele Handwerksunternehmen ihre angebotenen Ausbildungsstellen nicht besetzen. Sollte deshalb wirklich den verbliebenen Auszubildenden gewissermaßen verboten werden, den Betrieb nach der Ausbildung zu verlassen?

Bei näherer Betrachtung erscheint dieser Ansatz als Antwort auf die Herausforderungen ungeeignet, denn er verdeckt tieferliegende Strukturprobleme des Handwerks. Im Folgenden werden die fünf von Wollseifer genannten Punkte separat betrachtet und die zugrundeliegenden Strukturprobleme in den Blick genommen.

Wegen relativ niedrigeren Gehältern wandern Fachkräfte in andere Wirtschaftsbereiche ab

zu 1.) Ein Strukturproblem für das Handwerk liegt in den relativ niedrigeren Gehältern, die dort im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen gezahlt werden. Eine im letzten Jahr erschienene, umfangreiche Untersuchung zu Lohnstrukturen im Handwerk zeigt, dass Wollseifer hier kein neues Phänomen anspricht. Vielmehr haben die Gehälter im Handwerk in den letzten Jahrzehnten relativ an Attraktivität verloren: Der Abstand zwischen den Gehältern im Handwerk und dem Durchschnitt der anderen Wirtschaftsbereiche wuchs während des Untersuchungszeitraums 1979–2012 deutlich.

Ende der 1970er Jahre entsprach ein Handwerkergehalt noch fast dem Durchschnittsgehalt bei gleicher Qualifikation in anderen Wirtschaftsbereichen. Im Zeitverlauf stieg dieser bereinigte Verdienstunterschied jedoch von 0,9% um mehr als das Siebenfache auf 6,8% (Haverkamp/Fredriksen 2018, S. 42f.). Gerade der Wechsel in die Industrie kann sich deshalb heutzutage für im Handwerk ausgebildete Fachkräfte aufgrund deutlich höherer Gehälter auszahlen, selbst wenn sie dort als Angelernte arbeiten und ihre spezifischen berufsfachlichen Kompetenzen nicht einbringen können. Dieses Strukturproblem betrifft den Arbeitsmarkt und hat zunächst wenig mit der Ausbildung zu tun.

Kleinbetriebliche Struktur führt zu größerer Abhängigkeit von Azubis bei der Fachkräftesicherung

zu 2.) Wenn kürzlich ausgelernte Auszubildende ihrem Betrieb den Rücken kehren und in andere Wirtschaftsbereiche wechseln, wirkt grundsätzlich das gleiche Strukturproblem wie bei älteren Beschäftigten: Die attraktiveren Löhne sorgen für die Abwanderung der Fachkräfte.

Wollseifer verweist darauf, dass der Verlust für ein Unternehmen besonders schmerzhaft ist, wenn Zeit und Geld in die Ausbildung investiert wurde, um künftige Mitarbeiter*innen auszubilden. Gerade wenn auf dem Arbeitsmarkt kaum Fachkräfte angeworben werden können, steigt die Bedeutung der Ausbildung für eine nachhaltige betriebliche Fachkräftesicherung. Und je weniger Auszubildende in einem Betrieb sind, desto größer wird die Abhängigkeit des Betriebs von diesen Auszubildenden. Es macht offensichtlich einen entscheidenden Unterschied, ob der einzige Auszubildende den Betrieb verlässt oder einer von zehn. Das dahinterliegende Strukturproblem des Handwerks ist, dass die meisten Handwerksbetriebe Kleinst- oder Kleinbetriebe sind.

Im Gegensatz zur Argumentation Wollseifers verweisen die statistischen Datenerhebungen jedoch darauf, dass in den letzten Jahren der Anteil derjenigen Absolvent*innen steigt, die im Anschluss an die Ausbildung im Betrieb verbleiben. Der Anteil der übernommenen Ausbildungsabsolvent*innen am Gesamtjahrgang wird als Übernahmequote bezeichnet. Die Ergebnisse des IAB-Betriebspanels zeigen, dass die Übernahmequote seit Mitte der 2000er Jahre konstant steigt. Wurden 2006 lediglich 56% der Ausbildungsabsolvent*innen übernommen, waren es 2017 bereits 74%. Allerdings zeigt sich auch: Je kleiner das Unternehmen, desto geringer die Übernahmequote. Bei Unternehmen mit 1–9 Beschäftigten stieg die Übernahmequote zwar von 45% auf 60%, dieser Wert liegt aber deutlich unter dem Durchschnitt.

Ausbildungskosten und Rückgang der Ausbildungsbeteiligung von Kleinstbetrieben

zu 3.) Die durchschnittlichen Kosten von ca. 15.000 Euro, die einem Betrieb im Laufe einer dreijährigen Ausbildung entstehen, verdecken die ausgeprägten Unterschiede zwischen verschiedenen dualen Ausbildungsberufen. Eine BIBB-Erhebung zu Kosten und Nutzen der betrieblichen Ausbildung legt offen, dass die Nettokosten von ca. 20.000 Euro bei der Ausbildung von Zerspanungsmechaniker*innen bis ca. -3.250 Euro (negative Kosten = Gewinn/Überschuss!) bei der Ausbildung von Bäcker*innen reichen.

Wollseifer sieht in der Ausbildung vor allem eine Investition der Handwerksbetriebe. Eine Investition, um Fachkräfte für den Betrieb zu gewinnen. Wenn Auszubildende direkt nach der Ausbildung den Betrieb verlassen, kommt es nach dieser Lesart zu einer Fehlinvestition. Die Höhe des wirtschaftlichen Schadens, der einem Unternehmen entstehen kann, wenn Auszubildende im Anschluss nicht im Betrieb bleiben, variiert jedoch stark entsprechend der Nettokosten. Der Bezug auf die Durchschnittskosten ist nur begrenzt aussagekräftig. Hier sind genauere Daten nötig, um eine differenzierte Bewertung vorzunehmen. Grundsätzlich wirkt sich hier ebenfalls das Strukturproblem aus, dass die meisten Handwerksbetriebe Kleinst- oder Kleinbetriebe sind. Für einen kleinen Betrieb ist die Investition von einigen Tausend Euro sehr viel gewichtiger als für ein Großunternehmen.

Das dahinterliegende Strukturproblem des Handwerks ist ein seit längerem zu beobachtender Rückgang der Ausbildung im Handwerk. Wenn die Ausbildungsbeteiligung von Unternehmen betrachtet wird, zeigt sich seit Mitte der 2000er Jahre, dass einerseits die absolute Anzahl der ausbildenden Kleinstbetriebe mit weniger als zehn Beschäftigten sinkt und andererseits auch die Anzahl sowie der Anteil der Auszubildenden zurückgeht, die in Kleinstunternehmen ausgebildet werden (Datenreport 2019, S. 208f.).

Bei geringer Produktivität fällt Ausbildungsvergütung besonders ins Gewicht

zu 4.) Mit der von der Bundesregierung geplanten Mindestausbildungsvergütung wird die Ausbildung voraussichtlich ab 2020 für alle Betriebe teurer, die zuvor weniger als 515,– Euro im ersten, weniger als 615,– Euro im zweiten und weniger als 715,– Euro im dritten Ausbildungsjahr zahlen. Das betrifft insbesondere Handwerksbetriebe in Ostdeutschland.

Das dahinterliegende Strukturproblem liegt in der geringen Produktivität in vielen Handwerksberufen, die nicht im gleichen Maße von produktivitätssteigernden technischen Innovationen profitieren können, wie andere Wirtschaftsbereiche. Geringe Produktivität spiegelt sich in niedrigen Erträgen aus der Arbeit der Auszubildenden. In der Kosten-Nutzen-Rechnung der betrieblichen Ausbildung stehen den Erträgen die Bruttoausbildungskosten gegenüber. Bei diesen macht die Ausbildungsvergütung mit über 60 Prozent den größten Posten aus. Dort wo die Ausbildung bei niedrigen Erträgen und geringen Bruttoausbildungskosten gestaltet werden muss, stellt die Erhöhung der Ausbildungsvergütung auf das von der Regierung angepeilte Mindestniveau für Unternehmen eine erhebliche Belastung dar, wie Wollseifer anmerkt. In anderen Worten: Für Betriebe, die sehr knapp kalkulieren müssen, könnte die Mindestausbildungsvergütung das Ausbildungskalkül wesentlich verändern.

Hoher Konkurrenzdruck auf dem Markt lässt Handwerksunternehmen wenig Spielraum

zu 5.) Bei steigender Nachfrage und knappem Angebot auf dem Ausbildungsmarktsegment, auf dem die Handwerksbetriebe nach Auszubildenden suchen, müsste einer einfachen Marktlogik folgend der Preis, also die Ausbildungsvergütung steigen. Das gleiche gilt für die Löhne der im Handwerk ausgebildeten Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt. Wollseifer verweist jedoch darauf, dass Handwerksunternehmen nicht die nötige Marktmacht haben, um die steigenden Ausbildungs- und Lohnkosten an die Kunden weiterzugeben. Das dahinterliegende Strukturproblem des Handwerks ist dann, dass hoher Konkurrenzdruck auf dem Markt herrscht und viele Handwerksunternehmen bei der Preisgestaltung wenig Spielraum haben.

 

Ausbildungsressourcen ausweiten und alle Jugendliche in Ausbildung bringen

Die fünf benannten Strukturprobleme hängen zusammen und lassen sich nicht in dem Sinne lösen, dass sie auf absehbare Zeit verschwinden werden. Es geht stattdessen darum (berufsbildungs‑)politische Maßnahmen zu ergreifen, um mit den von den Strukturproblemen ausgelösten Herausforderungen umzugehen – beispielsweise mit den Schwierigkeiten vieler Handwerksbetriebe, Fachkräfte zu gewinnen bzw. nach der Ausbildung auch zu halten.

Ablösesummen bei Betriebswechsel werden dieser Herausforderung nicht gerecht. Selbst wenn eine Form gefunden würde, solch eine Maßnahme in Übereinstimmung mit dem Grundrecht auf freie Berufswahl einzuführen, wäre der Effekt vermutlich eher kontraproduktiv. Das Handwerk versucht, mit witzigen und klugen Imagekampagnen die Attraktivität der Ausbildung zu steigern. Eine Pflicht zum Abarbeiten der Ausbildungskosten im Betrieb, wenn man nicht von einem anderen Betrieb freigekauft wird, würde die Attraktivität einer Ausbildung im Handwerk bei jugendlichen Ausbildungsinteressierten vermutlich schwer beschädigen.

Mehr Erfolg bei der Sicherstellung eines ausreichenden Fachkräftenachwuchses im Handwerk verspricht, erstens die Ausbildungsbereitschaft/-fähigkeit der Handwerksbetriebe und zweitens attraktive Ausbildungsplätze im Handwerk zu erhalten bzw. neu zu schaffen.

Die Nachteile des Handwerks in der Konkurrenz um gut qualifizierte Fachkräfte gegenüber Großunternehmen aus der Industrie und anderen Wirtschaftsbereichen werden sich kurz- und mittelfristig nicht ausgleichen lassen. Entsprechend muss die Anzahl der in Handwerksberufen ausgebildeten Fachkräfte gesteigert werden, um trotz Abwanderung in andere Wirtschaftsbereiche ausreichend viele Fachkräfte für die Handwerksbetriebe auszubilden.

Es sind gerade die Jugendlichen mit weniger guten Schulabgangszeugnissen, die aktuell oft keine Ausbildungsstelle finden und in Maßnahmen des Übergangssystems einmünden (Berufsbildungsbericht 2019, S. 36). Um diese Jugendlichen erfolgreich auszubilden, brauchen die Betriebe teilweise mehr Unterstützungsangebote. Auch finanzielle Anreize oder öffentlich geförderte zusätzliche Ausbildungsplätze können in diesem Kontext weiterhelfen. Das Ziel sollte sein, eine Win-win-Situation zu schaffen, in der das Handwerk durch die Ausweitung der Ausbildungsressourcen genügend Fachkräftenachwuchs bekommt und zugleich eine wichtige sozial-integrative Funktion wahrnimmt, indem es dazu beträgt, alle Jugendliche in Ausbildung zu bringen.



Kommentar verfassen