Die Ausbildungspflicht in Österreich: Ausbildungsgarantie 2.0 oder verlängerte Schulpflicht?

Von Sonja Schmöckel und Clemens Wieland

Deutschland bekommt eine Ausbildungsgarantie! Der Bundesrat hat am 7. Juli 2023 dem „Gesetz zur Stärkung der Aus- und Weiterbildungsförderung“ zugestimmt. In dessen Rahmen wird am 1. August 2024 die Ausbildungsgarantie in Kraft treten.  

Was da jedoch in Deutschland unter der Überschrift „Ausbildungsgarantie“ auf den ersten Blick wie ein bahnbrechendes Reformwerk daherkommt, entpuppt sich auf den zweiten Blick als eher halbherziges Unterfangen. Denn die dort enthaltenen Maßnahmen, wie z.B. Praktika zur beruflichen Orientierung, Mobilitätszuschüsse und die Einstiegsqualifizierung, sind sicherlich sinnvolle – wenn auch keineswegs neue – Instrumente zur Ausbildungsförderung. Mit Blick auf die Kernidee der Ausbildungsgarantie – also die garantierte Versorgung von jungen Menschen, die bei ihren Bewerbungen leer ausgegangen sind, mit einer Ausbildungsmöglichkeit – haben diese Instrumente jedoch nur sehr indirekt zu tun. Die dafür notwendigen außerbetrieblichen Ausbildungsmöglichkeiten sind zwar auch im Gesetz enthalten, greifen aber nur in bestimmten, als unterversorgt geltenden Regionen.  

Diese Einschränkungen bringen mit sich, dass noch vor dem Inkrafttreten der Ausbildungsgarantie die Diskussion darüber entflammt, ob sich mit den beschlossenen Regelungen wirklich eine Ausbildung garantieren lassen wird oder nicht. Zudem kursieren bereits neue Begriffe in der Diskussion: Wäre nicht eine Ausbildungspflicht viel besser geeignet, um die vielen „chillenden“ und jobbenden Jugendlichen endlich auf den Ausbildungsweg zu bringen – anstatt scheinbar unnötige außerbetriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen, wo die Betriebe doch händeringend nach potenziellen Azubis suchen?  

Angenommen, die Ursachen für die Ausbildungsproblematik lägen vorwiegend in der mangelnden Motivation der Jugendlichen, so ist der Gedanke naheliegend, nicht den Jugendlichen eine Ausbildung zu garantieren, sondern sie zu einer solchen zu verpflichten. Und erneut richtet sich der Blick nach Österreich, das nicht nur mit seiner langjährigen Erfahrung in Sachen Ausbildungsgarantie punkten kann, sondern zudem mit einer sogenannten Ausbildungspflicht.  

Die Ausbildungspflicht in Österreich 

Was hat es nun auf sich mit der Ausbildungspflicht in Österreich? Ein Blick zurück: Bis 2016 gab es in Österreich nur eine Schulpflicht von neun Schuljahren, was im Hinblick auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes und des Lebens viel zu kurz war. Zwar gingen 90 % der jungen Menschen auch „freiwillig“ auf weiterführende Schulen oder in die Ausbildung, aber es war durchaus legal, seine Bildungslaufbahn mit 15 Jahren schon vollständig zu beenden. Arbeitslosigkeit, Bezug von Transferleistungen, fragmentierte Berufslaufbahnen und geringes Lebenseinkommen waren häufig die Folge.  

Statt einer Verlängerung der Schulpflicht wurde vor diesem Hintergrund 2016 die Ausbildungspflicht eingeführt. Sie beinhaltet, dass Jugendliche, die die allgemeine Schulpflicht erfüllt haben, bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres eine Bildungs- oder Ausbildungsmaßnahme oder eine darauf vorbereitende Maßnahme besuchen.〈1〉 Es handelt sich also keineswegs um die allgemeine Verpflichtung der jungen Menschen, eine vollwertige berufliche Ausbildung zu absolvieren. Dass es im Gegenteil keine reine Verlängerung der Schulpflicht wurde, liegt daran, dass sich die Arbeitsmarktpolitik hier als treibende Kraft zeigte.  

Was zeichnet die Ausbildungspflicht aus?  

Was die Ausbildungspflicht besonders macht und warum sie vielleicht auch in einigen deutschen Bundesländern noch Modellcharakter haben könnte, sind das Meldesystem und das Jugendcoaching. Österreich verpflichtet nicht nur jeden Menschen unter 18 Jahre, einen weiterführenden Bildungsgang oder eine Ausbildung zu besuchen, sondern kontrolliert dies auch flächendeckend und über alle Systeme hinweg. Jede Institution, in der eine nach dem Ausbildungspflichtgesetz gültige Bildung, Ausbildung oder ein darauf vorbereitendes Angebot von Jugendlichen besucht werden kann, meldet seine Zu- und Abgänge in einem Monitoringsystem der Statistik Austria. Statistik Austria ist per Gesetz dazu befugt, diese Daten zusammenzuführen. Wer die Schule verlässt oder die Ausbildung abbricht und nicht binnen drei Monaten zurückkehrt bzw. etwas Neues beginnt, wird von der Statistik Austria den zuständigen Koordinierungsstellen gemeldet, mitsamt Kontaktdaten des Jugendlichen und – sofern Daten vorhanden sind – der Erziehungsberechtigten. Dieses Meldesystem ermöglicht eine zeitnahe und lückenlose Kontaktaufnahme, Begleitung und Unterstützung.  

Die laufende Qualitätssicherung und ständige Optimierung dieses Systems hinsichtlich Treffsicherheit und Datenqualität ist ein großer Aufwand, der sich lohnt: 91 % der ausbildungspflichtverletzenden Jugendlichen konnten im Jahr 2023 durch die beharrliche Kontaktsuche, die Unterbreitung von Angeboten und notfalls auch durch Sanktionierung reintegriert werden.〈2〉 Das sind über 4.000 Jugendliche, die ohne die Meldung und Unterstützung ihre Bildungslaufbahn vermutlich viel zu früh abgebrochen hätten und stattdessen nun eine Ausbildung besuchen oder sich zumindest mit intensiver Betreuung durch das Jugendcoaching, das AMS oder geeignete Übergangsprojekte beruflich orientieren oder auf ihren weiteren Bildungsweg vorbereiten.  

Das zentrale Instrument in der Begleitung der Jugendlichen ist das bereits erwähnte Jugendcoaching. Hier geht es darum, junge Menschen ab der 8. Schulstufe und bis zum 19. Lebensjahr〈3〉 auf dem Weg zwischen Beendigung der Schulpflicht und nachhaltiger Integration in weiterführende Ausbildungen zu begleiten und dabei Hindernisse wie fehlende Bildungs- oder Berufsorientierung, Abbrüche oder Vorfeldprobleme gemeinsam zu bewältigen. 2023 haben schon 70.000 Jugendliche von einem Jugendcoaching profitiert. Zum Erfolgsrezept des Jugendcoachings gehören die Kontinuität und Bekanntheit dieses Programms (anstelle von regionalen Projekten mit begrenzten Laufzeiten), die bundesweit einheitliche Umsetzung und die niederschwellige Möglichkeit der Inanspruchnahme z.B. durch Präsenz an Schulen oder mobile Beratung.〈4〉

Die Ausbildungspflicht betrifft junge Menschen bis zum 18. Geburtstag und leistet somit den Unterbau zur Ausbildungsgarantie bis 25: „Bis 18 verpflichten wir Dich zu Bildung und Ausbildung, aber bis 25 garantieren wir Dir diese!“. Das österreichische Modell der Ausbildungsgarantie ist schon vielfach beschrieben worden〈5〉. Deshalb verzichten wir hier darauf. 

Ein Resümée 

Die „AusBildungspflicht“ in Österreich entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als flexibel zu erfüllende Bildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr. Damit ähnelt sie stark der Schulpflicht in Deutschland, die ja ebenfalls in sehr unterschiedlichen (Schul-)Formen – einschließlich des Berufsschulunterrichtes im Rahmen der dualen Berufsausbildung – erfüllt werden kann. Allerdings ist die „AusBildungspflicht“ in Österreich in ein kohärentes Gesamtsystem eingebettet, das aufeinander aufbauend in eine vollwertige Berufsausbildung mündet. Und diese Kohärenz des Gesamtsystems ist es vor allem, von der Deutschland lernen kann.  

Denn nach wie vor bleiben in Deutschland zu viele Jugendliche auf der Strecke, die eigentlich eine Ausbildung machen wollen. Das ist fatal – sowohl mit Blick auf deren individuelle Perspektiven als auch mit Blick auf den Fachkräftemangel. Gleichzeitig bleibt eine zunehmende Zahl von Ausbildungsplätzen unbesetzt. Offenkundig gelingt es also mit den herkömmlichen Herangehensweisen – von Berufsorientierung bis Einstiegsqualifizierung – nicht, die Passungsprobleme in den Griff zu bekommen. Die jetzt anstehende Einführung einer Ausbildungsgarantie in Deutschland ist grundsätzlich ein richtiger und wichtiger Schritt. Um wirklich Wirkung zu erzielen, werden allerdings deutliche Nachbesserungen erforderlich sein.
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〈1〉  Vgl. z.B. Ausbildungspflicht nach Erfüllen der Schulpflicht (bmbwf.gv.at)
〈2〉  Vgl. Homepage der Bundeskoordinierungsstelle AusBildung bis 18: https://www.bundeskost.at/wp-content/uploads/2024/01/MAB-Beendigungsarten_2023_1.-4.-Quartal.pdf
〈3〉  Jugendlichen mit Beeinträchtigungen steht das Jugendcoaching auch bis zum 25. Lebensjahr zur Verfügung
〈4〉 Vgl. z.B.: https://www.neba.at/jugendcoaching
〈5〉 Vgl. z.B. Wieland, Clemens, Die Ausbildungsgarantie in Österreich, online verfügbar unter 2020_Ausbildungsgarantie_Oesterreich.pdf (bertelsmann-stiftung.de)

 



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