Beratung mit Händen und Füßen? Dann doch lieber mit Karten! – Einblicke in die Evaluation der Kompetenzkarten

Die Kompetenzkarten für die Potenzialanalyse in der Migrationsberatung gibt es bereits seit Dezember 2015. Bis heute sind schon ca. 9.000 Exemplare deutschlandweit im Einsatz. Entwickelt wurden die Karten in Zusammenarbeit mit den Trägern der freien Wohlfahrt und dem Forschungsinstitut für betriebliche Bildung (f-bb). Eine genauere Beschreibung der Kompetenzkarten liefert ein Blogbeitrag meines Kollegen Martin Noack im Rahmen unserer Reihe zu Kompetenzfeststellungsverfahren „vom Heben der Schätze“, die Roman Wink moderiert.

Ursprünglich wollten wir mit den Kompetenzkarten vor allem Berater(innen) in ihrer Arbeit für Menschen mit Migrationshintergrund unterstützen. Mittlerweile sind die Kompetenzkarten aber auch zum festen Bestandteil in der Bildungs- und Berufsberatung von anderen Zielgruppen geworden. Aus diesem Grunde entschieden wir uns dazu, die Kompetenzkarten einer Evaluation zu unterziehen. Zwei für uns zentrale Fragen waren dabei: Wie werden die Karten eigentlich in der Praxis eingesetzt? Wie können die Karten noch besser auf die Bedürfnisse der Berater und Beratungsteilnehmer zugeschnitten werden?© Bertelsmann Stiftung

Der folgende Blogbeitrag bietet einen Einblick in die Ergebnisse der Evaluation der Kompetenzkarten. Die Grundlage dafür bieten mehrere qualitative Interviews mit Bildungs- und Berufsberatern sowie eine quantitativen Onlineumfrage von 200 Beratern.

Wer benutzt die Kompetenzkarten?

Die Kompetenzkarten werden in verschiedenen Beratungskontexten eingesetzt. Angefangen mit ihrer ursprünglichen Funktion als Instrument für Berater von erwachsenen Migranten (MBE-Berater), werden die Karten heute auch verstärkt in der Arbeit mit z.B. unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, Förderschülern mit leichter geistlicher Behinderung oder auch deutschen Jugendlichen eingesetzt. Neben MBE-Beratern nutzen die Karten heute auch Mitarbeiter der Agenturen für Arbeit, Jobcenter und des Jugendamts sowie Mitarbeiter von Bildungswerken, Volkshochschulen, freien Bildungsträgern und ehrenamtlichen Initiativen.

Wie werden die Karten in der Praxis eingesetzt?

Die Kompetenzkarten haben drei Anwendungsbereiche:

  • Kompetenzfeststellung

Das sogenannte „Profiling“ ist meistens der erste Schritt vor jeder Bildungs- und Berufsberatung. Berater lernen ihre Klienten zunächst kennen und erstellen ein persönliches Profil. Für diesen Prozess werden die Kompetenzkarten von den Beratern als äußerst nützlich eingeschätzt. Denn die Karten erlauben es, gezielt die Stärken der Teilnehmer in den Vordergrund zu stellen und helfen den Beratern dabei festzustellen, welche Kompetenzen die Teilnehmer mitbringen und welche Interessen sie verfolgen.

  • Bildungsberatung

Bei jungen Menschen folgt im zweiten Schritt eine gezielte Bildungsberatung anhand des festgestellten Kompetenzprofils. Die Berater greifen hierfür auf die Karten zurück, um zuvor dokumentierte Kompetenzen wie z.B. technische und handwerkliche Fertigkeiten, Teamfähigkeit oder Zuverlässigkeit in Referenz zu einem Ausbildungsberuf oder Berufsbild zu stellen. So versuchen die Berater, die festgestellten Stärken der Teilnehmer mit dem am besten darauf zugeschnittenen Bildungsweg zu verknüpfen.

  • Berufsorientierung

Erwachsene Beratungsteilnehmer besitzen häufig schon eine abgeschlossene Grundausbildung oder mehrere Jahre Berufserfahrung. Die Berater nutzen die Karten auch hier, um ein Kompetenzprofil ihrer Klienten zu erstellen und diese dann mit Hilfe des individuellen Profils in ein Praktikum oder einen Job zu vermitteln. In der Beratung für Menschen mit Migrationshintergrund helfen die Karten in diesem Schritt, um die Beratungsteilnehmer auch darüber aufzuklären, wie der Arbeitsmarkt in Deutschland eigentlich aufgebaut ist und welche Kompetenzen wo gebraucht werden.

Wie häufig werden die Karten eingesetzt?

In der quantitativen Befragung zu den Kompetenzkarten geben zwei Drittel der Berater an, die Karten in mindestens jeder 4. Beratung einzusetzen. 20 Prozent benutzen die Karten sogar in mindestens jeder zweiten Sitzung.

Von Seiten der interviewten Berater ist zu ergänzen, dass sie die Karten häufig mit selbst entwickelten oder vorhandenen Instrumenten (wie Fragebögen zur Kompetenzfeststellung oder dem ProfilPASS) kombinieren. Selten ersetzt die Kartenbox andere Beratungsinstrumente gänzlich. Nach Angaben der Berater sind die Karten stattdessen sehr nützlich, um die Lücken in bestehenden Instrumenten zu füllen und dadurch den Beratungsprozess in positiver Weise zu ergänzen.

Wie haben die Karten den Beratungsprozess verändert?

Am meisten verändert wurde die Kommunikation zwischen Berater und Beratungsteilnehmer. Das typische „mit Händen und Füßen Verständigen“ wurde durch die einfache bildliche Darstellung der Kompetenzen und deren Übersetzung in mehrere Sprachen nach Meinung aller interviewten Berater hervorragend ergänzt.

Kathrin Hinze vom Jugendamt Stadt-Dessau, die vorrangig mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen arbeitet, bringt die Karten nun auch bei deutschen Jugendlichen zum Einsatz. Sie erlauben ihr die Kompetenzen beider Zielgruppen einfacher festzustellen, da Kommunikationshürden und Verständnisprobleme schneller überwunden werden können.

Die quantitative Umfrage bestätigt dieses Ergebnis: 65 Prozent der Berater geben an, ihre Klienten unter Einsatz der Karten schneller und besser kennenzulernen. Auch geben 61% an, dass die Beratung mit den Kompetenzkarten sehr gut auf anschließende Potenzialanalysen wie die der Agentur für Arbeit bzw. der Jobcenter vorbereitet.

Zudem ziehen die Berater großen Nutzen aus den Rückseiten der Kompetenzkarten. Diese sind mit Fragen und einfachen Kompetenzbeschreibungen ausgestattet. Sie dienen als nützliche Anhaltspunkte, um den Beratern Beispiele in der Gesprächsführung oder Anregungen für Fragen zu geben. Auch hier bekräftigt die quantitative Umfrage: für 57 Prozent der Berater ist mit dem Einsatz des Kartensets eine praxisnähere Beratung möglich.

Wie nehmen die Klienten die Karten auf?

Grundsätzlich erzielten die Karten auch bei den Beratungsteilnehmern eine positive Resonanz. Gerade für Jugendliche und Migranten erlaubt die bildliche und visuelle Darstellung, die Inhalte der Beratung (z.B von der Kompetenzfeststellung über die Bildungsberatung bis hin zum geplanten Berufseinstieg) besser zu verstehen. Auch ermöglichen ihnen die Karten zu erkennen, welche ihrer Fähigkeiten sie wo einsetzen können.

Agnes Faßnacht vom Integrationsfachdienst Lernen Fördern TG RLP e.V., die die Karten in ihrer Arbeit mit Förderschülern mit leichter geistiger Einschränkung einsetzt, berichtete, dass das Fähigkeitspotenzial von Förderschülern häufig von Lehrern nur auf ein Grundschulniveau eingestuft wird. Nach einer Beratung mit den Karten fühlen sich ihre Klienten im Gegensatz dazu meist gestärkt: sie werden sich darüber bewusst, dass sie durchaus viele nützliche Kompetenzen besitzen und diese auch gebraucht werden.

Inga Hesse vom Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft ist in der Beratung von sowohl jungen als auch erwachsenen Flüchtlingen tätig. Sie erzählte, dass manche Karten von ihren Klienten zunächst missverstanden werden. Im Gespräch ist es ihr dann dennoch möglich, die Inhalte der Kompetenzen zu erklären. So haben manche Klienten viel Spaß daran, ihren Fähigkeitsbereich anhand der Karten darzustellen, wohingegen andere Kompetenzen willkürlich auswählen, weil ihnen der Umgang mit Kompetenzen noch fremd ist. Als wichtig erachtet sie deswegen, die Karten zumindest beim ersten Einsatz unter gezielter Betreuung der Berater anzuwenden.

Welche Möglichkeiten gibt es, um die Karten noch zu verbessern?

Sara Ben Mansour vom Bewerbungszentrum AsA e.V. berichtete, dass es generell wenig adäquates Material für die Beratung in der Berufsorientierung gibt. Die Karten bieten dafür einen ersten guten Ansatz, doch sollten ihrer Meinung nach die Kompetenzen auch mit Berufsbildern verknüpft werden. Nützlich wäre das zum einen für die Einarbeitung neuer Kollegen, die noch wenig Erfahrung besitzen. Ihnen könne so z.B. eine schnelle Referenz zu den in Deutschland sehr zahlreich vorhandenen Ausbildungsberufen gegeben werden. Zum anderen könnten Beratungsteilnehmer durch Berufekarten ihre Kompetenzen selbst in Verbindung mit Berufen stellen oder anhand ihrer Berufserfahrung Verknüpfungen zu den damit verbundenen Kompetenzen herstellen. Das ermöglicht den Klienten, ihre Berufswünsche selbst besser zum Ausdruck zu bringen. Auch könnte durch die Kombination von Kompetenzen mit Berufen den Beratern und ihren Klienten ein praxisnahes Instrument für das Bewerbungstraining gegeben werden.

Von anderer Seite her kam der Wunsch, die Kompetenzbegriffe der Karten um weitere Sprachen zu ergänzen. Als geeignet fänden die Berater eine Übersetzung in Farsi (u.a. Afghanistan u. Pakistan), Tigrinya (u.a. Eritrea) und Kurdisch.

Außerdem hilfreich wäre eine Abbildung der Kompetenzkarten auf PowerPoint-Folien. So könnten die Karten auch in Gruppenberatungsgesprächen besser zum Einsatz kommen.

Fazit der Evaluation

Auf Basis der Erfahrungsberichte der interviewten Berater und der quantitativen Umfrage haben wir die Karten in den letzten Monaten kontinuierlich weiterentwickelt. Das Ziel ist dabei, die Karten noch besser auf die Bedürfnisse der Nutzer zuzuschneiden.

Seit Mai sind die Karten auch in Englisch erhältlich. So sollen auch Berater außerhalb des deutschsprachigen Raumes unterstützt werden.

Im August wurden die Karten dann unter die offene CC BY SA Lizenz gestellt. Über eine Anfrage können Interessenten offene Daten (inklusive Bilder, Adobe InDesign Dateien, etc.) erhalten, um die Kompetenzkarten auf ihre individuellen Beratungskontexte zuzuschneiden und auch weiter zu entwickeln. Anfragen für die offenen Daten bekamen wir sogar bereits aus dem Ausland.

Seit Ende September sind die Kompetenzbegriffe auf den Karten neben Englisch, Französisch, Russisch, Arabisch, Türkisch nun auch um die Sprachen Farsi und Tigrinya erweitert worden.

Schon bald werden die Karten dann im PowerPoint-Format erhältlich sein, um sie auch für Gruppenberatungen anwendbarer zu machen. Die Idee der Verknüpfung von Kompetenzkarten mit Berufen bzw. Berufsbildern haben wir ebenfalls aufgegriffen und planen zu Beginn nächsten Jahres ein ergänzendes Set von Berufekarten zur Verfügung zu stellen.

Wir freuen uns, dass die Kompetenzkarten so zahlreich im Einsatz sind, sowohl bei der Bildungs- und Berufsberatung von jungen als auch erwachsenen Menschen.   

Wir danken allen Teilnehmern der Evaluationsinterviews und der quantitativen Umfrage für ihr Engagement, für das geteilte Wissen und die produktive Zusammenarbeit.

 

Möchten auch Sie Ihre Erfahrung über die Arbeit mit den Kompetenzkarten in der Bildungs- und Berufsberatung teilen oder uns Anregungen für die Weiterentwicklung der Karten geben? Dann sind Sie herzlich dazu eingeladen uns zu kontaktieren und einen Gastbeitrag oder Kommentar auf diesem Blog zu veröffentlichen.



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