UNESCOs „Lernende Städte“ – Die Antwort auf globale Herausforderungen?

Am 27.09. beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) für das Jahr 2030. Insgesamt 169 Teilziele weisen hierbei den Weg zu sozialer, ökonomischer und ökologischer Nachhaltigkeit in allen Ländern der Welt. Da mehr als 50% aller Menschen bereits heute in urbanen Gegenden lebt – Tendenz stark steigend – stellt dies vor allem Städte vor enorme Herausforderungen.

Können „lernende Städte“ die Antwort sein? Was macht lernende Städte aus? Warum sollte eine Stadt sich auf den Weg machen eine lernende Stadt zu werden? Was muss sie dafür tun? Und zuletzt wie kann der Erfolg der notwendigen Reformen überprüft werden? Diese und andere Fragen diskutierte ich vor kurzem zusammen mit 650 weiteren Bildungspexperten und -politikern aus 95 Ländern auf der 2. International Conference on Learning Cities der UNESCO in Mexiko City und stellte dabei selbst einige Bildungsmonitoringinstrumente der Bertelsmann Stiftung vor. In diesem Blogbeitrag stelle ich einige der diskutierten Antworten auf die obigen Fragen vor.

Was charakterisiert lernende Städte?

Eine sehr anschauliche Antwort auf diese Frage bot Alejandra Barrales in ihrer Einführungsrede. Die Bildungsministerin von Mexiko Stadt erinnerte an das große Erdbeben von 1985, welches weit mehr als 10.000 Menschen das Leben kostete und besonders die als erdbebensicher geltenden Wolkenkratzer zerstörte. Frau Barrales sieht in diesem Ereignis einen bedeutenden Impuls für kollektives Lernen: Die Zivilgesellschaft sei viel organisierter als zuvor. Nachbarschaftsräte, die damals errichtet worden, bestünden noch heute. Gesetzliche Reglungen seien angepasst worden, um eine zweite vergleichbar Katastrophe zu verhindern und die Baubranche habe seither unglaubliche Innovationen auf den Weg gebracht.

Arne Carlson, der Direktor des UNESCO Institutes on Lifelong Learning (UIL) in Hamburg verwies in seiner Einführung auf die offizielle Antwort auf diese Frage, wie sie auch der Definition im Globalen Netzwerk Lernender Städte zu entnehmen ist: Demnach mobilisiert eine lernende Stadt ihre Ressourcen in allen Bereichen um (1) Inklusives Lernen von Grundbildung bis Hochschulbildung voranzutreiben, (2) Lernen in Familien und Gemeinden neu zu beleben, (3) Lernen für und am Arbeitsplatz zu stärken, (4) den Nutzen moderner Lerntechnologien auszuweiten, (5) Qualität und Exzellenz des Lernens zu erhöhen und (6) eine Kultur des Lernens über das ganze Leben hinweg zu fördern.

Eine Stadt ermögliche dadurch soziale Kohäsion, die Verantwortungsübernahme von Individuen, wirtschaftliche Entwicklung und kulturellen Reichtum und trägt somit zu ihrer eigenen nachhaltigen Entwicklung bei.

Warum sollte sich eine Stadt auf diesen Weg machen?

Youngwha Kee, die Präsidentin des koreanischen National Institute of Lifelong Education, bot hierfür ein paar ermutigende Zahlen aus Vergleichen zwischen lernenden und sonstigen Städten an. Diese reichten von geringeren Kriminalitätsraten über geringere Abwanderungszahlen bis hin zu niedrigeren Scheidungsraten.

Aber der Weg lohne sich auch allein schon deswegen, weil die Erreichung der oben bereits erwähnten Ziele nachhaltiger Entwicklung ohne das Engagement der Städte letztlich nicht möglich sei, so Qian Tang, der stellvertretende Generaldirektor für Bildung bei der UNESCO. Speziell die Ziele 4 (Sicherung eines integrierenden Bildungssystems für alle und die Förderung von gleichberechtigten und hochwertigen lebenslangen Lernchancen) und 11 (Schaffung von nachhaltigen Städten und menschliche Siedlungen, die inklusiv, sicher und widerstandsfähig sind) erfordern laut Arne Carlson, ein ganzheitliches Investment der Städte in die Themen Lernen und Bildung. Aber auch zahlreiche weitere Ziele müssten vor allem in den Städten gelöst werden, so Mariko Sato, Leiterin des UN Habitat Regionalbüros für Asien und den pazifischen Raum, in ihrer Präsentation. Dies unterstrich auch Sylvia Montoya, Direktorin des UNESCO Instituts für Statistik, die an demselben Expertenpanel teilnahm wie ich im meiner Rolle als Vertreter der Bertelsmann Stiftung. Sie wies in ihrem Vortrag unter anderem darauf hin, dass im bevölkerungsreichen Land China, die Urbanisierung von 13% in 1950 auf 60,3 % in 2030 steigen werde, während in westlichen Ländern wie dem Vereinigten Königreich sogar bald fast die gesamte Bevölkerung in Städten leben werde (92,2% in 2030). Dass die Städte der richtige Ansatzpunkt für umfassende Bildungsreformen sind, bestätigte auch Paulo Gabriel Soledade Nacif, der stellvertretende Bildungsminister Brasiliens, da sie besonders viele öffentlichen Räume böten, die letztlich alle als Lernräume dienen könnten und sollten.

Zuletzt bietet die Entwicklung hin zu einer lernenden Stadt auch schlicht eine Möglichkeit, sich zu den Problemen in der eigenen Stadt außerhalb derselben auszutauschen und Anregung sowie Unterstützung für deren Lösung zu erhalten. So offenbahrte ich abseits der großen Debatten auf dem Weg zum Abendessen ein jamaikanischer Bürgermeister, dass ihm erst durch diese Konferenz so richtig bewusst geworden war, dass die Bürgermeister überall auf der Welt vor mehr oder weniger ähnlichen Herausforderungen stünden und der Meinungsaustausch wertvolle Synergien schaffe. Austauschplattformen wie diese Konferenz oder das globale Netzwerk lernender Städte, ermöglichten ein extrem fruchtbares und pragmatisches Peer-Learning.

Insgesamt bekam ich den Eindruck, dass die UNESCO mit der Ebene der Städte einen guten Hebel in die Hand genommen hat. Interessanterweise haben mit München und Freiburg bisher nur zwei deutsche Städte bisher diesen Austausch über die UNESCO gesucht, obwohl auch Fachzeitschriften das Thema bereits aufgegriffen haben, wie z.B. die DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung. Mit Gelsenkirchen hat sich eine weitere Stadt zumindest vom Konzept der Lernenden Städte inspirieren lassen, wie der Leitartikel in der letzten Ausgabe des Didacta Magazin beschrieb. Ich bin überzeugt, dass noch viele weitere Städte von einer solchen Vernetzung profitieren und sich den lokalen wie globalen Herausforderungen besser stellen könnten. Sei es über die Beispiele guter Praxis, Instrumente und Strategien die das Koordinationsteam entwickelt, oder zuletzt auch über die Anerkennung für Erreichtes z.B. über Teilnahme an Fallstudien oder den Gewinn des UNESCO Learning City Award.

Wie kann eine Stadt eine lernende Stadt werden?

Formelles Mitglied des Netzwerks Lernender Städte zu werden geht recht einfach: Der Bürgermeister einer Stadt mit mindestens 10.000 Einwohnern verabschiedet für seine Stadt die Leitdokumente, also die  Pekinger Erklärung zum Aufbau Lernender Städte sowie die Hauptmerkmale Lernender Städte, und schickt eine Bewerbung an die nationale UNESCO-Kommission.

Den Begriff Lernende Stadt mit Leben zu füllen, ist natürlich eine andere Sache. Als eine zentrale Herausforderung nannte der französische Philosoph und Schriftsteller Gille Lipovetsky, die Versäulung der Bildungssysteme zu überwinden und somit ein anschlussfähiges kontinuierliches Lernen im Lebensverlauf zu ermöglichen. Zentral hierfür sei die Vernetzung und Kooperation von Gewerkschaften, Arbeitgebern, Politikern und Lehrkräften aller Bildungsbereiche von der frühkindlichen Bildung bis zur Erwachsenenbildung.

Ein besonders gutes Beispiel der Vernetzung der relevanten Akteure bietet dabei Finnlands zweitgrößte Stadt, Espoo, wie ihr stellvertretender Bürgermeister Sampo Suihko in seiner Präsentation anschaulich zeigen konnte. Aber auch die anderen 11 Gewinner des UNESCO Learning City Award boten hilfreiche Ansätze für Umsetzungsstrategien. Die aus ihrer Analyse abgeleitete Roadmap (S. 160-163) kann einen ersten Orientierungspunkt für interessierte Verwaltungschefs bieten. Als ein besonders wichtiges Element nannte  Jiantong Liu, der für Aus- und Weiterbildung zuständige stellvertretende Generaldirektor des chinesischen Bildungsministeriums, das Aufsetzen eines Monitoring- und Evaluationsprozesses.

Welche Rolle  digitale Ansätze im gesamten Prozess spielen können, wurde anhand der Vorstellung der Microsoft Initiative „citynext“ vielversprechend deutlich. Sie zeigte Beispiele dafür wie die Digitalisierung mittels eGovernment, Tele-Arbeit, und Big-Data helfen kann Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.

Wie können lernende Städte den Erfolg notwendiger (Bildungs-) Reformen überprüfen?

Dies war die Frage, die von Seiten des UNESCO Institute for Lifelong Learning an mich gerichtet worden war. Die Organisatoren selbst haben im Kontext der ersten Learning Cities Conference in Peking, eine eigene theoretische Liste von 52 Indikatoren inklusive möglicher Datenquellen aufgestellt, die auch Teil der Leitdokumente ist. Bei den versammelten Teilnehmern, trafen die von mir vorgestellten praktischen Ansätze und Erfahrungen der Bertelsmann Stiftung im Bildungsmonitoring auf großes Interesse. Besonders unser Fokus auf Transparenz und Vergleichbarkeit zwischen Bildungssystemen in verschiedenen Städten, Ländern, und Staaten wurde für relevant befunden. Aber auch die konkreten Verweise auf den vor einem Monat erschienenen deutschen Weiterbildungsatlas, das internationale University Ranking Tool des CHE u-multirank, und das konkrete Praxisbeispiel des Bielefelder Lernreports trafen auf ein großes Interesse. Die jüngste Publikation von Christian Kroll aus unserem Haus zu den Fortschritten der OECD-Länder bzgl. der gerade erst beschlossenen Ziele nachhaltiger Entwicklung ermöglichte mir dabei einen sehr guten Anschluss zum aktuellen Aufhänger der Konferenz.

Sehr spannend für unsere eigene Arbeit war die letzte thematische Präsentation der Plenumsdiskussionen. Andreas Schleicher, der OECD Direktor für Bildung und Kompetenzen, stellte auf unserem Panel per Video die Wichtigkeit eine Fokussierung auf Lernergebnisse also Kompetenzen, klar heraus. Basierend auf den Analysen von PIAAC, dem PISA-Test für Erwachsene, wies er daraufhin, dass hohe im Vergleich zu niedrigen Lesekompetenzen mit doppelt so guten Arbeitsmarktchancen, dreimal so hohen Löhnen, besserer Gesundheit, verstärktem freiwilligen Engagement und einem höherem allgemeinen Vertrauen einhergehen. Er beklagte aber auch die starke Abhängigkeit der Rechen- und Lesekompetenz vom sozialen Hintergrund, und wies dabei unter anderem auf Deutschland als Negativbeispiel. Dass hier eine echte Entwicklung möglich sei, zeigten die Beispiele von Korea, Spanien, Finnland und Frankreich, die über verschiedene Generationen hinweg deutliche Anstiege der Grundkompetenzen verzeichnen konnten. Herr Schleicher wies dabei auch im Besonderen auf die Probleme formaler Bildung hin angesichts der starken Unterschiede von Kompetenzniveaus zwischen Absolventen gleicher Bildungsabschlüsse in unterschiedlichen Ländern.

Neu waren mir dabei die großen Länderunterschiede in der beruflichen Verwendung der bei Erwachsenen vorhandenen Kompetenzen. So kommen die in den USA eher mittelmäßigen Sprach-, Rechen- und Problemlösekompetenzen viel häufiger auch am Arbeitsmarkt zur Anwendung als die sehr umfangreichen Kompetenzen in Japan. Diese Unterschiede erklärten erstaunliche 30% der Unterschiede in der Arbeitsproduktivität zwischen den analysierten OECD-Ländern. Konsequenterweise fordert Herr Schleicher die systematischere Anerkennung von Kompetenzen wie sie in den Niederlanden und den skandinavischen Ländern bereits jetzt existieren (siehe auch unsere eigene Studie zu Anerkennungssystemen in Europa). Diese Kompetenzanerkennung sollte zu einer stärkeren Verbindung von Lernen und Arbeiten führen, Bildungsbenachteiligte in den Fokus nehmen und letztlich auch die Vergleichbarkeit von Bildungsoptionen durch eine höhere Transparenz bzgl. der jeweils zu erwerbenen Kompetenzen zu erleichtern. Abschließend forderte er genau wie wir im Projekt Weiterbildung für Alle bessere und zugänglichere (Bildungs-)Beratungssysteme und personalisierte Weiterbildungsmöglichkeiten unter Einbezug von Open Educational Resources (OER).

 

Fazit

Insgesamt war die zweite UNESCO Konferenz zu lernenden Städten für mich selbst eine sehr spannende Lernerfahrung. Und das nicht nur, wegen der interessanten Vorträge, der Mitarbeit an der Abschlussabklärung der Konferenz, und der Vernetzung mit Bildungsakteuren aus buchstäblich aller Welt. Sondern auch, weil Mexiko Stadt selbst mich sehr überrascht hat mit ihrem weltoffenen Flair, ihrer alten Kultur, und ihrem modernen Stadtbild. Unvergesslich bleiben wird für mich der Tagesausflug zu den beeindruckenden Stufenpyramiden von Teotihuacán, einer UNESCO-Weltkulturerbestätte direkt vor den Toren der Stadt. Gemeinsam mit Wassilios Fthenakis, dem Präsidenten der Didacta, folgte ich dabei den Spuren einer untergegangenen Zivilisation. Die Worte unseres Reisführers Pablo beschreiben deutlich, wohin es führen kann, wenn wir die Ziele Nachhaltiger Entwicklung aus dem Blick verlieren: „Was uns das plötzliche Verschwinden der Teotihuacanos vor 1200 Jahren lehrt ist sorgsam mit unserer Welt und ihren Ressourcen umzugehen. Denn hätten sie nicht die ganzen Wälder der Hochebene abgeholzt, wäre ihnen auch nicht das dringend benötigte und später für sie heilige Trinkwasser abhandengekommen.“ Vielleicht wäre ihnen ihr Schicksal erspart geblieben, hätten sie selbst in einer lernenden Stadt gelebt.

Die 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung im Überblick (http://www.globalgoals.org/)

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Over and Out.



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