Situation des spanischen Arbeitsmarkts – MYSKILLS als Chance für spanische Arbeitnehmer:innen und deutsche Arbeitgeber:innen (3)

Statusbeschreibung des spanischen beruflichen Ausbildungs- und Anerkennungssystems – MYSKILLS als Basiselement der Anerkennung informell erworbener Berufskompetenz

Im ersten Teil des Gastbeitrags hat uns unsere Kollegin Clara Bassols, Director in der Fundacíon Bertelsmann, mit aktuellen Details zum spanischen Arbeitsmarkt versorgt. In Teil 2 lernen wir mehr über die Bedeutung der beruflichen Bildung in Spanien und deren Anerkennung. In 2015 haben wir im Programm „Lernen fürs Leben“ schon eine Publikation zu den guten europäischen Beispielen herausgegeben. Im folgenden Blogbeitrag schildert Clara Bassols die spanischen Bemühungen rund um die Anerkennung informell erworbener beruflicher Kompetenzen:

Zunächst ein Blick zurück. In Spanien wurde bereits 2009 ein erstes Kompetenznachweissystem eingerichtet[1]. Dieses System sah mehrere Phasen der Beratung, Bewertung, Anerkennung und Planung von Weiterbildungsmaßnahmen mit komplexen Verfahren und vielfältigen formalen Anforderungen vor. So mussten die Bewerber:innen Ihre Fähigkeitsnachweise innerhalb der von den Behörden für die einzelnen Berufssparten festgelegten Fristen vorlegen. Über dieses Regelungsverfahren konnten im Rahmen von 231 öffentlichen Aufrufe in einem Zeitraum von 10 Jahren lediglich für 300.000 Personen Kompetenznachweise ausgestellt werden.

Die derzeitige Regierung hat sich jedoch zum Ziel gesetzt, in den nächsten vier Jahren die beruflichen Fähigkeiten von nicht weniger als 3 Millionen Menschen anzuerkennen. Aus diesem Grund hat sie mit einem neuen Regelungsverfahren[2] eine Reihe von Verbesserungen im Nachweissystem für die Kompetenzen eingeführt. Als eine der wichtigsten Verbesserungen wurde die Regelung abgeschafft, bei der die Initiative für die Anerkennung der Berufskompetenzen in den einzelnen Berufssparten bei den Behörden lag, die dazu befristete öffentliche Aufrufe durchführten. Fortan kann sich jede:r Arbeitnehmer:in jederzeit an die entsprechende Behörde wenden, um die Ankerkennung ihrer/seiner beruflichen Qualifikation zu beantragen. Auch wurden die Berufsabschlüsse in kürzere Ausbildungsgänge bis hin zu Kurzschulungen aufgeteilt, deren Abschluss mit Einzelnachweisen belegt werden kann. Jede:r kann das Ausbildungsprofil um die auf dem weiteren beruflichen Werdegang erforderlichen Weiterbildungen und Schulungen ergänzen.

Die mit dieser neuen Verordnung eingeführten Änderungen sind eindeutig positiv zu bewerten. Wenn allerdings das Ziel erreicht werden soll, innerhalb von 4 Jahren die beruflichen Kompetenzen von 3 Millionen Menschen nachzuweisen, bedarf es zusätzlicher neuartiger und digitaler Mechanismen, mit denen die Anträge einer großen Anzahl von Bewerber:innen in kurzer Zeit bearbeitet werden können. Wenn die Bürger:innen sich jederzeit an die zuständigen Einrichtungen wenden können, um ihre informell erworbenen beruflichen Kompetenzen anerkennen zu lassen, kann dies zu einem exponentiellen Anstieg der Anfragen und damit zu einer Überforderung des Systems führen.

Was ist der Grund für den fehlenden Nachweis beruflicher Qualifikation?

Eine Ursache dafür ist das ausgeprägte Ungleichgewicht im Qualifikationsniveau der spanischen Bevölkerung. In weiten Kreisen der Gesellschaft herrscht immer noch die Auffassung vor, dass allein eine Hochschulausbildung Garantie für den sicheren Eintritt ins Berufsleben bildet. Wenn ein Hochschulzugang nicht möglich ist, gilt der direkte Einstieg ins Berufsleben lohnender als eine Berufsausbildung. In diesem Fall fehlt dann automatisch ein Nachweis, da informell on-the-job gelernt wird. Dies führt dazu, dass in Spanien im Jahr 2020 der Bevölkerungsanteil mit höherem Bildungsniveau bei 40 % und damit über den europäischen Durchschnitt von 33 % liegt, jedoch mit 23 % nur halb so viele Bürger:innen über einen mittleren Bildungsabschluss verfügen (Europa 46 %). Bei den formal Geringqualifizierten weist Spanien deshalb auch mit 37 % einen weit höheren Anteil als der Rest Europas (21 %) auf. Eine weitere Ursache ist die hohe Zahl der Schulabbrecher:innen, die mit 16 % im Jahr 2020 weit über dem europäischen Durchschnitt liegt, sowie der hohe Prozentsatz junger Menschen, die ihre Berufsausbildung nicht zu Ende bringen. Er liegt in manchen Ausbildungsgängen bei fast 40 %.

Die Mobilität der Arbeitskräfte ist in Spanien sehr viel geringer als in den Nachbarländern. So ist es nicht ungewöhnlich, dass ein:e Arbeitnehmer:in während ihres gesamten Arbeitslebens nur in zwei oder drei Unternehmen beschäftigt ist. Daher ist die Motivation zum Qualifikationsnachweis nach Eintritt in den Betrieb nicht sehr hoch. Zum Teil ist dies auch auf ein äußerst starres Arbeitsrecht zurückzuführen, das den Arbeitnehmern:innen hohe und mit der Betriebszugehörigkeit steigende Abfindungszahlungen gewährt. Dies hält viele Arbeitnehmer:innen davon ab, die Firma zu wechseln. Umgekehrt scheuen die Unternehmen sich, Arbeitnehmer:innen nach längerer Betriebszugehörigkeit zu entlassen.

Dieses Fehlen an beruflichen Qualifikationsnachweisen benachteiligt die betroffenen Menschen insbesondere dann, wenn es zu einer großen Wirtschaftskrise kommt. In einer Krise müssen viele Unternehmen ihre Pforten schließen, sodass viele Arbeitnehmer:innen ohne Berufsabschluss oder Nachweis der erworbenen Fähigkeiten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. Diese Realität schränkt die Mobilität der Arbeitnehmer:innen ein, hindert ihren Zugang zu neuen oder besseren Arbeitsplätzen und untergräbt die Chancengleichheit.

Auch deshalb ist es so wichtig, in Spanien ein flexibles und agiles System der Anerkennung von Kompetenzen einzuführen. Es muss einer großen Zahl von Personen ermöglichen, ihre beruflichen Fähigkeiten nachzuweisen.

Zurück zur aktuellen Situation der Anerkennungsstellen

Um lange Verzögerungen zu vermeiden und die Anstrengungen zu optimieren, sollten sowohl die Anerkennungsstellen als auch die Bewerber:innen zu Beginn des Prozesses schnell eine erste Einschätzung bekommen, ob der weitere Weg sich lohnt. Die Einführung eines Systems wie MYSKILLS scheint uns in dieser Hinsicht sehr nützlich zu sein. Das System ermöglicht computerbasiert auf flexible, einfache und schnelle Weise die berufspraktischen Kompetenzen bei einer sehr großen Anzahl von Personen zu messen. Ein MYSKILLS-Testergebnis ist kein offizieller Qualifikationsnachweis. Aber es gibt allen Beteiligten Orientierung über die Erfolgsaussicht des umfangreichen weiteren Anerkennungsverfahrens. Besonders dessen Praxisteil bindet Ressourcen, die man nicht investieren muss, wenn nach ca. 3-4 Stunden eines MYSKILLS-Tests schon klar ist, dass nur wenig berufliche Handlungskompetenz vorhanden ist.

Wir freuen uns, dass das Bildungsministerium der spanischen Regierung zu einem ersten Kennenlernen eingeladen hatte. Gerne werden wir auch weiteren Bildungsbehörden MYSKILLS vorstellen. MYSKILLS wäre in Spanien wahrscheinlich nicht direkt nutzbar und müsste erst an das spanische Umfeld angepasst werden. Außerdem ist zu bedenken, dass sich MYSKILLS nur an Bewerber aus 30 Berufen richtet, während in Spanien ein System erforderlich wäre, das ein viel breiteres Spektrum an Berufsfeldern abdeckt. Dennoch ist festzustellen, dass allein die 30 in MYSKILLS erfassten Berufe zwei Drittel der von den deutschen Arbeitsagenturen im Jahr 2015 (Startpunkt der Entwicklung des Instruments) vermittelten Stellen darstellen.

Wir halten das im Blog zuvor beschriebene, momentan laufende EURES-Pilotprojekt für wichtig, weil es die spanischen Stellen ermuntern könnte, MYSKILLS gründlich zu prüfen, die bereits vorhandene Erfahrung zu nutzen und ein ähnliches, auf die spanische Wirklichkeit zugeschnittenes System zu entwickeln.

Im 21. Jahrhundert kann sich Spanien einen derart hohen Anteil an Menschen ohne formelle oder informelle Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikationen nicht leisten. Dies schränkt ihre Mobilität ein, hindert sie am Zugang zu besseren Arbeitsplätzen und untergräbt die Chancengleichheit. Und man sollte nicht vergessen, dass berufliche Anerkennung auch zur Würde des Menschen beiträgt.

[1] Königliche Verordnung 1224/2009

[2] Königliche Verordnung 143/2021

Weitere Veröffentlichungen aus der Reihe:

Teil 1 „Miguel Sanchez auf dem Weg zum neuen Job in Deutschland – Wie MYSKILLS ihm den Weg bereitet hat“

Teil 2 „Situation des spanischen Arbeitsmarkts – MYSKILLS als Chance für spanische Arbeitnehmer:innen und deutsche Arbeitgeber:innen“



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